Honore de Balzac - Große und Kleine Welt - Seite 1
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Wer als
ernsthafter Betrachter die
Kunstausstellungen, die nach der
Revolution
von 1830
stattfanden, besucht hat, wird sich beim Anschauen der
endlosen, überhäuften Galerien kaum eines Gefühls des
Unbehagens und der
Langeweile, vielleicht sogar der
Trauer haben
erwehren können. Seit 1830
gibt es
keinen "Salon" mehr. Der
Louvre ist ein zweites
Mal
erstürmt worden durch die
Künstler; und sie haben es
verstanden, sich dort zu behaupten. Die Zulassung zum "Salon" bedeutete
ehemals für den kleinen Kreis, der in Frage kam, bereits
eine hohe
Auszeichnung, und über die
bedeutendsten der etwa
zweihundert
Bilder, die
ausgewählt worden, entspann sich beim
Publikum und bei
der
Kritik ein
leidenschaftlicher Widerstreit der Meinungen. Die Überfülle der
Gemälde, vor die sich heute der
Besucher gestellt sieht, erschöpft
seine
Aufmerksamkeit, und die
Ausstellung wird
geschlossen, bevor er aus
der Menge das
wenige Gute ausfindig gemacht hat. Statt eines
Ritterspiels haben wir einen
Volksjahrmarkt, statt eines
künstlerischen Ereignisses ein
lautes Warenhaus, statt
sorgfältiger Auslese--alles. Was ist die Folge? In
der Menge
verliert sich das Genie. Der Katalog ist zu
einem
dicken Buch
angewachsen, in dem mancher Name auch dadurch
nicht bekannter wird, daß zehn oder zwölf
ausgestellte Bilder dahinter
aufgeführt sind. Unter allen aber am
unbekanntesten ist
vielleicht derjenige
des
Malers Pierre Grassou aus
Fougères, den man in der
Künstlerwelt einfach
Fougères nennt.
Fougères wohnte 1832 im vierten Stockwerk
eines jener hohen,
schmalen Häuser der Rue de Navarin, die
aussehen wie der Obelisk von Luxor. Sie
besitzen einen
Hausflur,
eine enge, düstere,
halsbrecherische Wendeltreppe, in jedem Stock nicht mehr
als drei Fenster und einen Hof, der nicht mehr als
ein
viereckiger Schacht ist. Über den drei oder vier
Räumen,
die Grassou von
Fougères bewohnte, lag ein Atelier,
dessen Fenster
auf
Montmartre hinausgingen. Die Wände waren rot
gestrichen, der Boden
braun
gewächst, auf jedem Stuhl lag ein
gesticktes Deckchen, das
altmodische Sofa war
sauber wie das im
Schlafzimmer einer
Krämerin.
Alles ließ auf das
wohlgeordnete Dasein eines gesetzten Bürgers von
engem
Horizont schließen. Das Atelier
enthielt außerdem eine Kommode zum
Aufbewahren der Malgeräte, einen
Frühstückstisch, einen
Schreibtisch und einen
großen
Ofen,
ferner die zum Malen
erforderlichen Gegenstände. Alles dies war
sauber und in guter Ordnung. Eines Tages zu
Anfang Dezember,
dieses für den
Porträtisten besonders günstigen
Monats, war
Pierre Grassou
frühzeitig aufgestanden, hatte den Ofen
angezündet, die Palette
hergerichtet, und
wartete nun, daß die
Scheiben des
Atelierfensters auftauen würden, um
das
Tageslicht ungehindert einzulassen. Unterdessen verzehrte er
gedankenlos sein Frühstück,
ein in Milch getunktes
Hörnchen. Da klang von der
Treppe
her ein
wohlbekannter Schritt. Als der Maler eben mit der
Arbeit beginnen wollte, überraschte ihn Elias Magus,
Bilderhändler und
Leinwandwucherer.
"Wie gehts, alter Halunke?"
begrüßte ihn Grassou. Elias nahm ihm
seine Gemälde ab, das Stück für zweibis
dreihundert Francs. Sie
liebten es, im Verkehr mit
einander sich des
sogenannten Künstlertons
zu
bedienen. "Schlechte Geschäfte," sagte Elias. "Ihr
Künstler stellt unverschämte
Forderungen. Wenn Ihr für sechs Sous Farbe auf die
Leinwand
klext,
verlangt Ihr
gleich zweihundert Francs dafür. Aber Sie,
Fougères,
sind ein
anständiger Kerl. Darum lasse ich Ihnen auch etwas
Gutes
zukommen." "Timeo
Danaos et dona
ferentes," sagte
Fougères; "verstehen
Sie
lateinisch?" "Nun, das heißt
soviel, als daß die
Griechen
den Trojanern
nichts anboten, ohne
selbst einen
Profit dabei zu
haben. Und so wirds wohl auch heute noch sein, Herr
Odysseus-Magus!" Diese Worte waren eine
Musterwendung des unter den
Malern
gebräuchlichen Atelierstils, den
Fougères, wie man sieht,
vollkommen beherrschte. "Ich
verlange doch nicht, daß Sie mir Ihre
Bilder umsonst geben
sollen! Sie sind ein
ehrenwerter Künstler." "Also
kurzum: Ich
bringe
Ihnen einen Vater, eine
Mutter und eine Tochter."
"Meiner Treu,
ja! Sie
wollen sich
porträtieren lassen. Diese
Spießbürger, die sich
für Kunst
begeistern, haben es noch nie
gewagt, ein Atelier
zu
betreten. Übrigens hat die Tochter eine Mitgift von
hunderttausend
Francs zu
erwarten. Malen Sie die Leute nur ruhig.
Vielleicht
werden es
einmal Ihre
Familienbilder." Dieser alte Klotz von
Mensch,
Elias Magus genannt,
unterbrach sich hier mit einem so
heiseren
Lachen, daß der Maler
erschrak. Es war ihm, als hätte
der
Teufel selbst diese Worte vom
Heiraten gesprochen. "Fünfhundert Francs
sind für jedes Porträt gezahlt. Sie
können also drei
Bilder
machen." "Und sollten Sie die Tochter
heiraten, so
erinnern Sie
sich
hoffentlich meiner." "Ich
heiraten!?" rief
Pierre Grassou. "Wo ich
gewohnt bin, ganz
allein schlafen zu gehen und mit der
Morgensonne aufzustehen? Ich, der sein Leben
geregelt hat...."
"Hunderttausend Francs,"
sagte Magus, "und ein
entzückendes Mädchen, mit Goldton wie ein
echter Tizian." "Der Alte war
Kaufmann. Jetzt ist er
Kunstliebhaber
und
Besitzer eines
Landhauses in Ville d'Avray mit zehn--bis
zwölftausend
Pfund Rente." "Beim
Himmel, hören Sie auf! Mir ist, als
hörte ich schon
Pfropfen knallen...." "Drei
Porträts.... Ich werde sie
in den 'Salon'
schicken.... Ich werde ins Fach des
Porträtisten
übergehen. Nun denn, in
Gottes Namen!" Der alte Elias entfernte
sich, um die Familie
Vervelle zu
verständigen. Werfen wir
inzwischen
einen Blick auf die
Vergangenheit Pierre Grassous de
Fougères, um
ermessen zu
können, von welcher Bedeutung ein solcher Auftrag für
ihn sein
konnte und welchen
Eindruck das Ehepaar
Vervelle mit
seiner einzigen Tochter auf ihn
machen mußte. Bei
Servin, der
in der
Künstlerwelt den Ruf als Meister des Stiftes genoß,
hatte
Fougères zeichnen gelernt und war dann als Schüler zu
Schinner gegangen, um von ihm in das Geheimnis
seiner wunderbaren
Farben eingeweiht zu
werden. Aber der Meister gab
seinem Schüler
nichts von
diesem Geheimnis
preis--Pierre entlockte ihm
nichts. Hierauf
besuchte
er das Atelier
Sommervieux, um die Gesetze der
Komposition zu
studieren, aber sie blieben ihm ein
versiegeltes Buch. Er ging
zu
Granet und
Drolling, um ihnen die Technik ihrer
effektvollen
Interieurs abzusehen, doch vergebens, auch ihnen war
nichts zu
entreissen.
Endlich
beschloß Fougères seine
Studienzeit bei
Duval-Lecamus. Sein stilles,
gemässigtes
Wesen wurde in den
Ateliers zur
Zielscheibe des Spottes, doch
entwaffnete seine
Bescheidenheit und
rührende Geduld bald die Kameraden. Bei
den Lehrern fand er wenig Sympathie; sie
bevorzugten das
exzentrische,
übermütige, sprühende
Temperament, oder aber den ernsten,
grüblerischen Charakter, der
das Zeichen des
Genies ist; bei
Fougères fanden sie
nichts
als
Mittelmäßigkeit. Sein Äußeres entsprach
seinem Namen, er war fett
und plump,
mittelgroß von Gestalt und von blasser
Gesichtsfarbe. Er
hatte
schwarze Haare,
braune Augen, lange Ohren, eine
aufwärts gebogene
Nase und einen breiten Mund.
Keinem dieser Merkmale seines gesunden
aber
ausdruckslosen Gesichtes verlieh sein
mildes, leidendes,
resigniertes Wesen irgendwie
eine besondere Bedeutung. Ihn
beunruhigte weder das
leidenschaftliche Drängen des
Blutes, noch die Übermacht der
Gedanken, noch die
mächtige Begeisterung,
die das Zeichen der
genialen Künstler sind. Geboren, ein
ehrenwerter
Bürger zu sein, war
dieser junge Mann nach Paris
gekommen,
um hier bei einem
Farbenhändler Gehilfe zu
werden; aber in
seiner bretonischen Hartnäckigkeit hatte er es sich in den Kopf
gesetzt, Maler zu
werden, Gott mag
wissen, was er
aushielt,
wie er es
zuwege brachte, sich durch seine
Studienjahre durchzudarben.
Er durchlitt die
Entbehrungen der
Großen, die das Unglück
verfolgt
und die wie wilde Tiere von der Meute der
Mittelmäßigkeit
und der
Neider verfolgt werden. Kaum
meinte er auf eigenen
Füßen
stehen zu
können, so nahm er ein Atelier in
der Rue des Martyrs und fing an, zu
arbeiten. Im
Jahre 1819 trat er mit
seinem ersten Werk an die
Öffentlichkeit. Das der Jury zur
Ausstellung im
Louvre eingereichte Gemälde
stellte eine
Bauernhochzeit dar und war eine
wohlgelungene Nachahmung des
bekannten
Bildes von
Greuze. Es wurde
zurückgewiesen. Fougères, als er
diese
enttäuschende Mitteilung erhielt, tobte nicht, wie es die
Großen
tun, verfiel auch nicht einer jener
epileptischen Anwandlungen, die so
häufig mit einer
Herausforderung des Direktors oder des Sekretärs der
Ausstellung oder mit
blutdürstigen Drohungen enden.
Nichts von alledem geschah,
sondern
Fougères nahm
seelenruhig seine
Leinwand zurück, bedeckte sie mit
seinem Taschentuch und trug sie
wieder in sein Atelier
zurück.
Aber er
schwur es sich zu, ein
großer Künstler zu
werden. Das Bild stellte er auf eine Staffelei und begab
sich zu
seinem früheren Lehrer Schinner, einem Maler von
außerordentlichem
Talent, einem weichen und
geduldigen Menschen, dem die
letzte Ausstellung
des
"Salons" seinen Erfolg garantiert hatte. Grassou bat ihn, er
möge das
zurückgewiesene Werk
seiner Kritik unterziehen. Der große Maler
kam
sofort von
seiner Arbeit weg. Kaum hatte er das
Bild mit einem Blick gestreift, drückte er dem armen
Fougères
die Hand: "Guter Junge, du hast ein Herz von Gold,
man darf dich nicht
hintergehen. Also höre: du hast alles
gehalten, was du als Schüler
versprachst. Mein
lieber Fougères, statt
daß man etwas
Derartiges zusammenpinselt, tut man
besser, den
andern
nicht Farbe und
Leinwand zu stehlen.
Sattle um, solange es
noch Zeit ist! Zieh dir eine
Schlafmütze über und
kriech
um neun Uhr ins Bett.
Morgen aber, gegen zehn, gehst
du zu
irgend einem
Bureau und
suchst dir einen
Posten.
Von der Kunst aber laß die
Finger!" "Mein
Freund," sagte
Fougères, "mein Werk ist bereits
verurteilt worden, und ich bat
dich nicht, es zu
tadeln, sondern mir die
Gründe für
seine Ablehnung
auseinanderzusetzen." "Nun also: du hast keine Farbe, du
malst alles grau und tot, du
siehst die Natur durch
einen
Schleier. In der Zeichnung bist du grob und
ungeschickt,
in der
Komposition kopierst du
Greuze, den zu
verbessern du
nicht berufen bist." Als
Schinner die
Fehler des
Bildes aufzählte,
bemerkte er in den Zügen des
jungen Malers den
Ausdruck
einer so
tiefen Traurigkeit, daß er ihn zum
Mittagessen einlud
und ihn zu trösten
suchte. Am
nächsten Tage saß
Fougères
schon um
sieben in der Frühe vor der Staffelei und
pinselte an
seinem verworfenen Bilde herum. Er vertiefte die
Farben,
beseitigte die von
Schinner gerügten Mängel und arbeitete die Köpfe
besser heraus. Als ihn die
Korrekturarbeit anwiderte, trug er das
Bild zu Elias Magus.
Dieser Herr Magus war ein
holländisch-
belgischer Flame, und in
dieser Mischung lag wohl die dreifache
Vorbedingung für das, was er
geworden war:
geizig und reich.
Von
Bordeaux nach Paris
gekommen, eröffnete er auf dem Boulevard
Bonne-
Nouvelle eine
Gemäldehandlung. Das erste Bild, das
Pierre ihm
brachte,
betrachtete er sehr genau; dann
zahlte er ihm
fünfzehn
Francs dafür.
Fougères, der von der Palette leben mußte, und,
wie es die
Jahreszeit brachte, Brot und Nüsse oder Brot
und Milch oder Brot und
Kirschen oder Brot und Käse
verzehrte,
lächelte und
meinte: "Fünfzehn Francs verdienen und tausend
Francs
verbrauchen, damit kann man es weit bringen." Elias Magus
zuckte
die Achseln. Er nagte an den
Fingernägeln und
dachte, daß
er das Bild auch schon für hundert Sous hätte erhandeln
können. Jeden
Morgen spazierte
Fougères nun von der Rue des
Martyrs nach dem Boulevard
Bonnes-Nouvelle hinab und mischte sich der
Gemäldehandlung gegenüber unter die Passanten. Seine Augen
hingen an dem
Bilde, das aber
selten einmal die
Aufmerksamkeit eines
Vorübergehenden auf
sich
lenkte. Aber eines Morgens, gegen Ende der Woche, war
das Bild
verschwunden. Fougères schlenderte die
Straße zurück, ging auf
die
andere Seite hinüber und schritt
gerade auf den Laden
zu, indem er tat, als führe ein
Zufall ihn des
Weges. Der Händler stand auf der
Schwelle. "Nein," sagte Magus,
"ich lasse einen
Rahmen darum
machen, damit ich es einem
anbieten kann, der
glaubt, er
verstehe etwas von Bildern."
Fougères
wagte nicht mehr, sich auf dem Boulevard zu
zeigen. Er
arbeitete an einem neuen Gemälde. Mit der
Unermüdlichkeit eines
Mannes
plagte er sich zwei
Monate lang wie ein
Galeerensklave. Eines
Tages ging er, fast ohne es zu
wollen, wieder zum
Laden des Magus. Das Bild war nicht mehr da. "Ich
habe meine
Unkosten eingebracht und noch eine
Kleinigkeit daran
verdient.
Malen Sie mir flämische
Interieurs, eine
Anatomiestudie, eine
Landschaft. Ich
werde sie Ihnen
abkaufen," sagte Magus.
Fougères wäre dem Alten
am
liebsten um den Hals
gefallen. Er blickte zu ihm
wie zu einem Vater auf.
Freude im
Herzen, kehrte er
heim. Also hatte der große
Schinner sich doch in ihm
getäuscht. Noch gab es in
dieser Riesenstadt Herzen, die in
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