Honore de Balzac - Große und Kleine Welt - Seite 17
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Als mich meine Gefährten von dem
Mantel wieder befreiten,
richtete
eine weibliche
Stimme folgende Worte in
schlechtem Französisch an mich:
'Wenn Ihr um Hilfe ruft oder Miene macht, zu
entfliehen,
wenn Ihr Euch nur die geringste
zweideutige Bewegung erlaubt, so
ist der Herr, der Euch
gegenübersitzt, imstande, Euch ohne
Bedenken
niederzustoßen. Haltet Euch also ruhig. Die Ursache Eurer
Entführung sollt
Ihr jetzt
erfahren. Wollt Ihr Euch die Mühe geben, Eure
Hände gegen mich
auszustrekken, so
werdet Ihr
finden, daß Eure
chirurgischen Instrumente zwischen uns
beiden liegen, denn wir haben sie
aus Eurer Wohnung holen
lassen; sie
werden Euch notwendig sein,
denn wir
führen Euch in ein Haus, wo Ihr die
Ehre einer Dame
retten sollt, die eben im Begriff ist,
ein Kind zu gebären, das sie, ohne daß ihr
Gemahl
es weiß,
diesem Euch
gegenübersitzenden Edelmanne schenkt.
Obgleich mein Herr
seine Frau
selten verläßt, da er noch immer
leidenschaftlich in
sie
verliebt ist und sie mit der
Aufmerksamkeit spanischer Eifersucht
bewacht, so hat sie ihm dennoch ihre
Schwangerschaft zu verbergen
gewußt, und er hält sie für krank. Ihr sollt sie
jetzt entbinden. Die
Gefahren des
Unternehmens gehen Euch
nichts an,
nur habt Ihr uns zu gehorchen, sonst würde der
Geliebte,
der, wie schon bemerkt, Euch gegenüber im Wagen sitzt und
kein Wort
Französisch versteht, Euch bei der
geringsten Unbedachtsamkeit erdolchen.'
'Und wer seid Ihr?'
fragte ich, und
suchte die Hand
der
Sprecherin, deren Arm in den Ärmel eines Mantels gehüllt
war. 'Ich bin die
Kammerfrau meiner Herrin, ihre Vertraute, und
bereit, Euch durch mich
selbst zu
belohnen, wenn Ihr uns
in unserer mißlichen Lage
unterstützen wollt.' 'Gern,' antwortete ich, als
ich mich mit
Gewalt in ein
gefährliches Abenteuer
hineingezogen sah.
Unter dem Schutze der
Dunkelheit überzeugte ich mich, ob Gesicht
und Umrisse
dieses Mädchens im Einklange ständen mit der
Vorstellung,
die ihre
Stimme bei mir
gebildet hatte.
Dieses gute
Geschöpf
hatte sich ohne Zweifel
gleich im
voraus allen
Zufälligkeiten dieser
sonderbaren Entführung geopfert, denn sie
beobachtete das
gefälligste Schweigen, und
der Wagen war kaum zehn Minuten durch die Straßen von
Madrid gerollt, als sie schon einen Kuß von mir erhielt
und mir denselben
freundlich wiedergab. Der Liebhaber, der mir gegenüber
saß,
schien sich
nichts daraus zu
machen, daß ich ihn
gegen
meinen Willen mit einigen
Fußtritten bedachte. Ich
glaube, er
beachtete sie nicht, weil er kein
Französisch verstand. 'Nur unter
einer Bedingung kann ich Eure
Geliebte sein,'
antwortete mir die
Kammerfrau auf die
Dummheiten, mit denen ich sie in der
Hitze
meiner improvisierten und auf
Hindernisse aller Art stoßenden
Leidenschaft
unterhielt. 'Ihr dürft nie zu
erfahren suchen, wem ich
angehöre.
Wenn ich zu Euch komme, so wird das
Nachts geschehen,
und Ihr
werdet mich ohne Licht
empfangen.' Unsere Unterhaltung war
bis zu
diesem Punkt
gediehen, als der Wagen an der
Mauer eines Gartens hielt.
'Jetzt werde ich Euch die Augen
verbinden,' sagte die
Kammerfrau zu mir, 'und dann
stützt Euch
auf
meinen Arm, damit ich Euch
führen kann.' Sie schlang
ein
Taschentuch um meine Augen und band es fest an
meinem Hinterhaupte zu. Ich hörte das
Geräusch eines
Schlüssels, der
mit
Vorsicht von dem
schweigenden Geliebten, der mir gegenüber
gesessen
hatte, in das
Schloß einer kleinen
Pforte gesteckt wurde.
Gleich
darauf führte mich die
Kammerfrau mit gebeugtem
Körper durch die
sandigen Gänge eines
großen Gartens, bis zu einem
gewissen Platz,
wo sie
stehen blieb. An dem Widerhall unserer
Schritte bemerkte
ich, daß wir vor einem Hause standen.
'Jetzt still,' sagte
sie mir ins Ohr, 'und wacht wohl über Euch
selbst.
Laßt kein
einziges meiner Zeichen Euch
entgehen; ich kann ohne
Gefahr für uns beide nicht mehr zu Euch
sprechen, und
es handelt sich in
diesem Augenblicke darum, Euer eigenes Leben
zu retten.' Dann fuhr sie mit
lauter Stimme fort:
'Meine
Frau ist in einem
Zimmer im
Erdgeschoß; um in
dieses
zu
gelangen, müssen wir durch das
Zimmer ihres
Gatten und
an
seinem Bette vorüber;
hustet nicht, geht leise und folgt
genau
meinen Schritten, damit Ihr
nirgends anstoßt, noch mit dem
Fuße von dem Teppich
tretet, den ich auf den Boden
gelegt habe.' Der Liebhaber
murrte, wie ein Mann, der
unwillig
über zu
langes Zögern ist. Die
Kammerfrau schwieg, ich hörte
eine Tür
öffnen und
fühlte die warme Luft eines Zimmers;
wir schlichen mit
Wolfsschritten, wie Diebe bei einem
Einbruch. Endlich
nahm mir die
sanfte Hand des
Mädchens meine Binde ab.
Ich
befand mich in einem
großen und hohen
Zimmer, das
von einer
dampfenden Lampe
schlecht erleuchtet wurde. Das Fenster war
offen, aber durch den
eifersüchtigen Edelmann mit starken
Eisenstäben versehen.
Ich stak in
diesem Zimmer wie in einem Sacke. Auf
der Erde, auf einer Decke, lag eine Frau, deren Haupt
mit einem
Schleier von
Musselin bedeckt war; aber durch
diesen
Schleier leuchteten mit dem
Glanze zweier Sterne ihre
tränenvollen Augen,
vor den Mund drückte sie mit Kraft ein
Taschentuch und
biß so fest
darauf, daß ihre Zähne
hineindrangen; nie hatte
ich einen so schönen
Körper gesehen, aber
dieser Körper krümmte
sich unter den Schmerzen, wie eine ins Feuer geworfene
Harfensaite.
Die
Unglückliche hatte zwei Bogen aus ihren
Beinen gemacht und
stützte sich gegen eine Art Kommode, mit ihren
Händen hielt
sie sich an zwei
Stuhlbeinen, und alle Adern ihrer Arme
waren
schrecklich angeschwollen. So glich sie einem
Verbrecher, der auf
einer
Folterbank gemartert wird.
Übrigens ließ sie
keinen Schrei hören,
und das
dumpfe Krachen ihrer Knochen war das einzige
Geräusch,
das die
Stille unterbrach. Wir drei standen stumm und
unbeweglich.
Das
Schnarchen des Ehemannes verhallte in
tröstender Regelmäßigkeit. Ich
wollte
die
Kammerfrau anblicken, aber sie hatte die Maske
wieder vorgelegt,
die sie ohne Zweifel auf dem Wege
abgenommen gehabt hatte,
und sah
weiter nichts als zwei
schwarze Augen und liebliche
Umrisse. Der Liebhaber warf
sogleich Tücher über die Beine
seiner
Geliebten und legte den
Schleier, der ihre Züge verhüllte, doppelt
zusammen. Als ich die Frau
sorgfältig beobachtet hatte,
erkannte ich
an
gewissen Zeichen, die ich erst
unlängst bei einem der
traurigsten Ereignisse meines Lebens bemerkt hatte, daß das Kind tot
war. Ich
neigte mich gegen die
Kammerfrau, um ihr meine
Bemerkung
mitzuteilen. In
diesem Augenblick zog der
mißtrauische Unbekannte seinen
Dolch,
allein ich hatte noch Zeit, der
Kammerfrau alles zu
sagen, die ihm
darauf zwei Worte mit
leiser Stimme zuflüsterte.
Als der Liebhaber die Ursache
meines Zauderns erkannt hatte, durchfuhr
ihn ein
leichter Schauder von den Füßen bis zum Kopfe,
und ich glaubte durch die Maske von schwarzem Sammt
hindurch
zu
erkennen, wie sein Antlitz
bleich wurde. Die
Kammerfrau benutzte
einen
Augenblick, wo der
verzweifelte Mann die schon blau
werdende
Sterbende
betrachtete, um mich mit einem warnenden Zeichen auf mehrere
Gläser Limonade aufmerksam zu
machen, die
fertig zubereitet auf einem
Tische standen. Ich begriff, daß ich,
ungeachtet der
schrecklichen Hitze,
die meine Kehle
austrocknete, nicht trinken
dürfte. Der Liebhaber hatte
Durst; er nahm ein
leeres Glas,
füllte es mit
Limonade
und trank. In
diesem Augenblick bekam die Dame
schreckliche Krämpfe,
die mir den günstigen
Augenblick zur Operation
andeuteten; ich ergriff
meine
Lanzette und ließ sie schnell und mit
Geschick am
rechten Arm zur Ader. Die
Kammerfrau fing das reichlich
hervorspringende
Blut mit Tüchern auf, und die
Unbekannte fiel dann in
eine
willkommene Ohnmacht. Ich
waffnete mich mit Mut und
konnte,
nachdem ich eine
Stunde gearbeitet hatte, das Kind in Stücken
herausziehen. Als der Spanier begriff, daß ich seine
Geliebte gerettet
hatte,
dachte er nicht mehr daran, mich zu vergiften. Dicke
Tränen fielen in
Zwischenräumen auf
seinen Mantel. Die Frau stieß
nicht einen Laut aus, aber sie
zitterte wie ein
wildes
Tier, das in einer
Schlinge gefangen ist, und der Schweiß
rann in starken Tropfen von ihr. In einem furchtbar
kritischen
Augenblicke machte sie ein Zeichen, um uns auf das
Zimmer
ihres
Gatten aufmerksam zu
machen. Dieser hatte sich eben in
seinem Bette gewälzt. Von uns
vieren hatte sie
allein das
Geräusch der Decke oder des
Vorhangs gehört. Wir lauschten, und
durch die
Oeffnungen ihrer
Masken hindurch warfen sich die
Kammerfrau
und der Liebhaber
Flammenblicke zu, die zu
fragen schienen: 'Sollen
wir ihn
töten?' Dann
streckte ich meine Hand aus, als
wollte ich ein Glas der
Limonade nehmen, die der
Unbekannte
vergiftet hatte. Der Spanier glaubte, daß ich eins der
vollen
Gläser trinken
wollte; leicht wie eine Katze
sprang er hinzu,
legte
seinen langen Dolch über die
beiden vergifteten Gläser und
ließ mir das seinige, indem er mir andeutete, den Rest
aus demselben zu trinken. In
diesem Zeichen und in
seiner
lebhaften
Bewegung lagen so viele
Gedanken, so viel
Gefühl, daß
ich ihm verzieh, wenn er auf
meinen Tod
gesonnen hat,
um so jede
Erinnerung an
dieses Ereignis zu
begraben. Als
ich getrunken hatte, drückte er mir die Hand und
hüllte
selbst die Trümmer
seines Kindes sorgfältig ein. Nach zwei Stunden
voll Sorge und
Furcht brachten wir, die
Kammerfrau und ich,
die
Unbekannte wieder in ihr Bett. Der Liebhaber hatte bei
einer so
abenteuerlichen Unternehmung alle
Hilfsmittel zu einer
Flucht bedacht
und seine Diamanten daher auf ein
Papier gelegt; jetzt steckte
er sie, ohne daß ich es wußte, in meine
Tasche.
Nebenbei muß ich
bemerken, daß ich das wertvolle
Geschenk des
Spaniers garnicht kannte und mein Bedienter am folgenden Tage den
Schatz raubte, um mit
diesem großen Vermögen zu
entfliehen. Ich
sprach mit der
Kammerfrau noch über die
Vorsichtsmaßregeln, die sie
zu treffen hätte, und
wollte gehen. Die
Kammerfrau blieb bei
ihrer
Herrin, allerdings ein Umstand, der mich nicht sehr ermutigte;
ich
beschloß indes auf
meiner Hut zu sein. Der Liebhaber
packte das tote Kind und die
Wäsche, mit der die
Kammerfrau das Blut ihrer
Herrin aufgefangen hatte, in ein
Bündel
zusammen. Er band es fest
zusammen, nahm es unter
seinen
Mantel, fuhr mit der Hand über meine Augen, als
wollte
er mir sagen, daß ich sie schließen
sollte, und ging
dann
voraus, mich durch ein Zeichen
auffordernd, den
Zipfel seines
Rockes zu ergreifen; ich gehorchte ihm, warf aber noch einen
letzten Blick auf meine so
zufällig erlangte Geliebte. Die
Kammerfrau
riß ihre Maske ab, als sie den Spanier draußen sah,
und
zeigte mir das
lieblichste Gesicht von der Welt. Als
ich mich
wieder im
Garten befand und die freie Luft
einatmete, da, ich gestehe es, war mir, als fiele ein
ungeheures Gewicht von
meiner Brust. Ich ging in
achtungsvoller Entfernung
hinter meinem Führer her und
beobachtete die geringste
seiner Bewegungen
mit der größten
Aufmerksamkeit. Als wir an der kleinen
Pforte
wieder angekommen waren, faßte er meine Hand und drückte mir
das Petschaft eines
Ringes, den ich an einem
Finger seiner
linken Hand gesehen hatte, auf den Mund, ich aber gab
ihm zu verstehen, daß ich
dieses beredte Zeichen
begriffe. Auf
der
Straße warteten unsere zwei
Pferde; jeder von uns bestieg
eins; mein Spanier
bemächtigte sich
meines Zügels, und nahm den
seinigen zwischen die Zähne, denn in
seiner Rechten hatte er
das blutige Paket. Mit der
Schnelligkeit des Blitzes
ritten wir
davon. Es war mir unmöglich, auch nur den
geringsten Gegenstand
zu
merken, an dem ich
später den Weg
wieder hätte
erkennen können, den wir
gekommen waren. Mit
Tagesanbruch befand ich
mich vor
meiner Tür und der Spanier entfloh nach dem
Tore von
Atocha hin." "Und Du
konntest gar
nichts entdecken,
woran man
später jene Frau hätte
wiedererkennen können?" fragte der
Obrist den Chirurgen. "Als ich die
Unbekannte zur Ader ließ,
bemerkte ich an ihrem Arm, ein wenig über der Mitte
desselben, ein kleines Mal, etwa wie eine Linse groß und
von braunen
Haaren umgeben." In
diesem Augenblicke erbleichte der Chirurg,
der die gelobte
Verschwiegenheit verletzt hatte; aller Augen
hefteten sich
auf die
seinigen und folgten dann der
Richtung seines Blickes.
Die Franzosen sahen einen Spanier, der in einen
Mantel gehüllt
war, und
dessen Augen durch ein Gebüsch von Orangen
blitzten.
Kaum
hatten indes die Offiziere ihre
Blicke auf
diesen Mann
gerichtet, als er mit der
Leichtigkeit einer
Sylphe entfloh. Ein
Hauptmann verfolgte ihn schnell.
"Teufel, meine Freunde!" rief der Chirurg
aus,
"dieses Basiliskenauge hat mich zu Eis
erstarrt. Ist es
mir doch, als hörte ich
Totenglocken läuten! Empfangt mein
Lebewohl,
Ihr
werdet mich hier
begraben!" "Bist Du dumm,"
meinte der
Obrist Hulot.
"Falcon verfolgt den Spanier und wird uns schon
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