Honore de Balzac - Große und Kleine Welt - Seite 10

<<<     aufgedrückt hatten. Wollten sie den alten Ton der gesunkenen Monarchie nachahmen oder wollten sie das Beispiel befolgen, das gewisse Mitglieder der kaiserlichen Familie gegeben hatten, wie einige Häupter der Vorstadt Saint-Germain behaupteten, so viel ist gewiß, daß sich alle, Männer und Frauen, mit einer Unerschrockenheit in den Strudel der Genüsse stürzten, die an das Ende der Welt hätte glauben lassen können. Allein es gab damals einen besonderen Grund für diese Freisinnigkeit. Die Vorliebe des weiblichen Geschlechts für die Krieger war zu einer Art von Wahnsinn geworden. Diese Begeisterung, die den Wünschen Napoleons zusagte, wurde durch keine Zügel gehemmt. Der Kaiser ließ seinen Armeen selten Ruhe und die vorgeblichen Leidenschaften jener Zeit entwickelten sich daher mit einer ziemlich erklärlichen Schnelligkeit; die Ehen wurden auf eine so rasche Weise eingegangen, wie das oberste Haupt der Kolbacs, der Dolmans und der Epauletten, von denen die Frauen so sehr entzückt waren, selbst rasch in seinen Entscheidungen war. Die Herzen waren damals nomadisch, wie die Armeen. Die häufigen Friedensbrüche, die alle zwischen Europa und Frankreich abgeschlossenen Bündnisse nur als Waffenstillstand erscheinen ließen, führten ebenso häufige Trennungen zwischen den Kriegern und ihren Gattinnen herbei. In der Zeit von einem ersten bis zu einem fünften Bulletin der großen Armee sah sich daher manches Weib als Braut, Gattin, Mutter und Witwe. War es die Aussicht auf eine nahe Witwenschaft, die Aussicht auf Mitgift, oder die Hoffnung, den Glanz eines historischen Namens zu teilen, durch welche die Krieger so verführerische Reize für das weibliche Geschlecht erlangten? Wurde das schöne Geschlecht durch die Gewißheit, daß die Toten das Geheimnis der Leidenschaften nicht ausplaudern können, zu den Kriegern hingezogen? Oder muß man die Ursache für jenen süßen Fanatismus in dem edlen Reize suchen, den der Mut für das weibliche Geschlecht besitzt? Vielleicht waren es diese Gründe zusammengenommen, die der künftige Geschichtsschreiber der Sitten des Kaiserreichs ohne Zweifel erwägen muß, vielleicht trugen alle jene Gründe zu dem Leichtsinn bei, mit dem sich die Damen der Liebe und der Ehe überlieferten. Wie dem auch sein mochte, es mag hinreichen, daß wir hier bemerken, wie durch den Ruhm und die Lorbeeren so manche Fehler geweckt wurden, wie das weibliche Geschlecht mit Eifer jene kühnen Abenteurer aufsuchte, die ihm damals als wahre Quellen der Ehre, der Reichtümer und der Freuden erschienen, und wie damals eine Epaulette in den Augen eines jungen Mädchens einer Hieroglyphe glich, die Glück und Freiheit bedeutete. Ein Zug, der jene Epoche charakterisiert, war eine gewisse zügellose Leidenschaft für alles Glänzende. Nie wurden so viele Feuerwerke veranstaltet; zu keiner Zeit hatten die Diamanten einen so hohen Wert erreicht. Die Männer waren ebenso begierig nach jenen klaren Kieseln wie die Frauen und schmückten sich mit ihnen, gleich diesen. Vielleicht hatte der Wunsch, die gemachte Beute in der leichtesten Gestalt mit sich führen zu können, die Juwelen bei der Armee in ein so hohes Ansehen gebracht. Der Mann erschien damals nicht so lächerlich, wie das jetzt der Fall sein würde, wenn die Krause seines Hemdes oder die Finger den Blicken schwere Diamanten darboten, und Murat, dieser echte Südländer, hatte den Soldaten das Beispiel eines abgeschmackten Luxus gegeben. Der Graf von Gondreville, einer der Luculle jenes erhaltenden Senats, der nichts erhielt, hatte nur darum so lange gezögert, ein Fest zu Ehren des Friedens zu veranstalten, um desto glänzender Napoleon den Hof zu machen und alle die Schmeichler zu überstrahlen, die ihm zuvorgekommen waren. Die Gesandten aller mit Frankreich befreundeten Mächte, die wichtigsten Persönlichkeiten des Kaiserreichs, selbst einige Fürsten waren in dem prachtvollen Hotel des reichen Senators versammelt. Wenn der Tanz noch nicht in Schwung kommen wollte, so rührte das daher, weil man auf den Kaiser wartete; denn dieser hatte versprochen, daß er erscheinen werde, und hätte gewiß sein Wort gehalten, wäre nicht an demselben Abende zwischen ihm und Josephine ein Auf tritt vorgefallen, der die Scheidung des gekrönten Gattenpaares voraussehen ließ. Die Nachricht von jenem unangenehmen Auftritt war noch nicht bis zu den Ohren der Hofleute gelangt, und auf die Heiterkeit des Festes, das der Graf von Gondreville gab, hatte daher nur der eine Umstand Einfluß, daß Napoleon nicht erschien. Die schönsten Frauen von Paris hatten sich in den geschmückten Salons eingefunden, um durch die Üppigkeit ihres Schmuckes und ihrer Schönheit vor den Augen des Kaisers zu glänzen. Die auf ihre Reichtümer stolze Finanzwelt überstrahlte die glänzenden Generäle und hohen Offiziere des Kaiserreichs, die mit Kreuzen der Ehrenlegion und Titeln überhäuft waren; denn solche Feierlichkeiten waren stets Gelegenheit, die von den reichen Familien ergriffen wurden, um ihre Erbinnen den Augen der napoleonischen Prätorianer vorzuführen, in der Hoffnung, daß diese ihre Titel mit der prachtvollen Ausstattung der Erbinnen verbinden würden. Diejenigen Damen, die sich nur hinsichtlich ihrer Schönheit stark wußten, erschienen ebenfalls, um die Macht ihrer Reize zu versuchen. Es war dort, wie fast überall, die Freude nur eine Maske. Die heiteren und lachenden Gesichter, die ruhigen Stirnen verdeckten gehässige Berechnungen. Die Freundschafts- bezeigungen logen, und mehr als einer mißtraute seinen Feinden weniger als seinen Freunden. Diese kurzen Bemerkungen sind bestimmt, nicht nur die kleinen Verwicklungen des Auftritts, der sich vor unseren Augen entfalten wird, zu verraten, sondern auch das Fest einigermaßen kennen zu lernen, bei dem sie sich ereigneten. Zugleich wollten wir den Ton schildern, der damals in den Salons von Paris herrschte, und das bisherige darf daher gewissermaßen nur als eine Vorrede oder als ein geschichtlicher Prolog betrachtet werden, den die andersgestalteten heutigen Sitten erforderten. "Schauen Sie einmal nach jener gebrochenen Säule, die einen Kandelaber trägt! Sehen Sie die junge Dame, deren Haar nach chinesischer Art geflochten ist? Dort, links in der Ecke! Sie hat blaue Glockenblumen in dem Busche kastanienbrauner Haare, die in Garben über ihren Kopf herabfallen. Sehen Sie sie nicht? Sie ist so bleich, daß man glauben sollte, sie sei krank. Sie ist eine allerliebste Kleine. Jetzt richtet sie die Augen gerade auf uns. Ihre blauen Augen, die mandelartig gespalten sind und süß zum Entzücken, scheinen ganz besonders zum Weinen geschaffen. Aber sehen Sie doch! Jetzt beugt sie sich, um Madame Vaudremont durch die Masse von Köpfen hindurch zu erblicken, die in beständiger Bewegung sind und ihr die Aussicht abschneiden...." "Ja, jetzt habe ich sie, mein Lieber!... Du hättest sie mir nur als die bleichste von allen hier versammelten Damen bezeichnen sollen, so würde ich sie schon erkannt haben, denn ich habe sie bereits bemerkt. Sie hat den schönsten Teint, den ich je bewundert habe. Von hier aus dürftest Du wohl die weiße Haut ihres Halses nicht genau sehen können und die Perlen nicht, die die Saphire ihres Halsschmuckes unterbrechen. Aber von hier aus scheint es, als sähe man Türkise auf Schnee gesät. Sie besitzt feine Sitten, oder ist sehr kokett. Welche Schultern! Welche Lilienweiße!..." "Wer ist es denn?" fragte jener, der zuerst gesprochen hatte. "Ich weiß es nicht." "Das paßt zu Dir, mich zu verspotten!" versetzte der Soldat lächelnd. "Glaubst Du das Recht zu haben, einen armen Oberst, wie ich bin, zu verspotten, weil Du als glücklicher Nebenbuhler des armen Soulanges nicht eine einzige Pirouette machen kannst, ohne daß zugleich das Herz der Frau von Vaudremont tanzt? Oder deswegen, weil ich erst seit Monaten in dieses gelobte Land gekommen bin?... Ihr seid ein unverschämtes Volk, ihr Verwaltungsbeamten, die Ihr auf euren Stühlen sitzen bleibt, während wir Kommißbrot essen müssen! Wohlan, Herr Requêtenmeister, lassen Sie uns einmal das Feld rekognoszieren, in dem Ihr nicht eher wieder ruhig herrschen sollt, bis wir abgezogen sind! Was Teufel! Jedermann muß leben." "Oberst, da Sie mit Ihrer ganzen Aufmerksamkeit die schöne Unbekannte beehrt haben, die ich hier zum ersten Male bemerke, so haben Sie doch die Güte, mir zu sagen, ob Sie sie bereits tanzen sahen." "Ei! mein lieber Martial, was fällt Dir ein? Wenn man Dich als Gesandten abschickte, so möchtest Du wohl schlechte Geschäfte machen. Siehst Du nicht drei Reihen der unerschrockensten Koketten von Paris zwischen meiner hübschen Dame und dem glänzenden Schwarm von Tänzern, der unter dem Kronleuchter summt? Hast Du Dich nicht der Hilfe Deines Lorgnons bedienen müssen, um sie in dem Winkel jener Säule zu entdecken, wo sie in ein tiefes Dunkel vergraben scheint? Trotz der fünfzig Kerzen, die um ihr blondes Haupt herumflackern, denn es ist zwischen ihr und uns eine solche Menge von Diamanten und funkelnden Blicken, von schwankenden Federn, Spitzen und Blumen, daß es ein wahres Wunder wäre, wenn irgendein Tänzer sie inmitten dieser blendenden Gestirne bemerken würde! wie, Martial, hast Du nicht erraten, daß sie die Gattin irgendeines Unterpräfekten aus einem entlegenen Departement ist, die hier in Paris versuchen will, ihren Mann zum Präfekten zu machen?..." "Ich bezweifle," sagte der Oberst lachend, "denn sie scheint mir in der Intrige ebenso unbewandert, wie Du in der Diplomatie. Ich wette, Martial, daß Du nicht weißt, wie sie an ihre Stelle gekommen ist." Der Requêtenmeister blickte den Oberst auf seine Weise an, die ebensoviel Verachtung als Neugierde verriet. "Nun," fuhr der Oberst fort, "das arme Kind wird ohne Zweifel pünktlich neun Uhr gekommen sein. Vielleicht ist sie die Erste gewesen ... Wahrscheinlich wird sie die Gräfin von Gondreville in große Verlegenheit versetzt haben, da diese nicht zwei Gedanken zusammenreimen kann; verstoßen von der Hausfrau, wird sie dann durch jede Neuangekommene von Stuhl zu Stuhl weiter gedrängt worden sein, bis in das helle Dunkel jenes kleinen Winkels, wo sie nun als Opfer ihrer Demut eingeschlossen ist, und als Opfer der Eifersucht jener Damen, deren eifrigstes Bestreben es gewesen ist, eine so gefährliche und reizende Gestalt in den Hintergrund zu versetzen. Sie wird keinen Freund gehabt haben, der sie ermutigt hätte, den Platz zu verteidigen, den sie dem ersten Plane gemäß eingenommen haben muß, und jede von diesen treulosen Tänzerinnen hat gewiß unter Androhung der schrecklichsten Strafe allen ihren Anhängern verboten, unsere schöne Freundin aufzufordern. Sieh nur, mein Lieber, diese zärtlichen und offenen Augen haben gewiß eine allgemeine Verschwörung gegen die Unbekannte veranlaßt!... Diese Verschwörung wird zustande gekommen sein, ohne daß eine einzige dieser Damen ein Wörtchen gesagt hätte, als: 'Meine Liebe, kennen Sie diese kleine blaue Dame?'--Höre, Martial, willst Du binnen einer Viertelstunde von mehr schmeichelhaften Blicken beglückt werden, als Du vielleicht in Deinem ganzen Leben einernten kannst, so tue, als wolltest Du den dreifachen Wall durchdringen, der unsere Andromeda umschließt.... Du wirst sehen, wie auch die Dümmste von diesen schönen Göttinnen sofort eine List erfindet, die fähig wäre, den Mann einzuhalten, der sich am entschiedensten zeigte, um die klagende Unbekannte in das Licht zu ziehen, denn Du wirst gestehen, daß sie ganz aussieht wie eine Elegie." "Vielleicht ist sie Witwe, obgleich ihr Mann noch lebt!" versetzte der Oberst. "In der Tat gibt es unter den Damen viele solcher Witwen seit dem Frieden ..." antwortete Martial. "Aber, Oberst, wir täuschen uns beide. Es liegt zu viel Unschuld in diesen Augen, als daß es eine Frau sein sollte. Es liegt noch zu viel Jugend und Frische auf der Stirn und auf den Schläfen! Welch kräftige Töne des Fleisches! Nichts ist an Lippen und Kinn verwelkt. Alles ist noch frisch wie die Knospe einer weißen Rose, aber auch alles durch Wolken der Trauer verhüllt. Die Dame weint...." "Es kommt mir wenigstens so vor; aber sie weint nicht deshalb, weil sie ohne zu tanzen da sitzt," versetzte Martial, "Ihr Kummer rührt nicht von heute her, und man sieht, daß sie sich absichtlich so schön gemacht hat. Ich möchte wetten, daß sie schon liebt." "Bah! Sie ist vielleicht die Tochter irgendeines kleinen Fürsten aus Deutschland!" sagte der Oberst. "Ach! wie unglücklich ist doch ein armes Mädchen, das allein und vergessen dasteht!" versetzte Martial. "Kann man eine größere Anmut entfalten, als unsere kleine Unbekannte? Sie ist reizend!... Und nicht eine von den höfischen und häßlichen Megären, die sie umgeben, und die so empfindsam scheinen möchten, richtet ein Wörtchen an sie!... Spräche sie, so würden wir wenigstens ihre Zähne sehen!..." "O! Du wirst sauer, wie die Milch bei der geringsten Temperaturveränderung," sagte der Oberst sanft, aber doch etwas geärgert, einen Nebenbuhler in seinem Freunde zu erkennen. "Wie!" sagte der Requêtenmeister, ohne die Bemerkung des Obersten zu hören und richtete sein Lorgnon auf alle Personen, die in seiner Nähe standen; "wie, ist denn niemand hier, der uns     >>>
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