Honore de Balzac - Große und Kleine Welt - Seite 6

<<<     ihm einen Stuhl herbeizog. "Vollkommen, meine Dame, und ich komme, Ihnen für die Sorgfalt, die Sie mir bewiesen haben, meinen Dank zu sagen, besonders dem Fräulein, das meinen Fall gehört hat...." Hippolyt sprach diese Worte mit jener anmutigen Befangenheit aus, die durch die erste Verwirrung der wahren Liebe hervorgerufen wird, und blickte zugleich das junge Mädchen an; Adelaide zündete eben eine Schirmlampe an, um einen großen kupfernen Leuchter entfernen zu können, der bisher gebrannt hatte. Sie verneigte sich leicht und trug dann den kupfernen Leuchter in das Vorzimmer, stellte die Schirmlampe auf den Kamin und nahm darauf neben ihrer Mutter, etwas hinter dem Maler, Platz, um ihn nach Gefallen betrachten zu können. Über dem Kamine befand sich ein großer Spiegel, und da Hippolyt fast fortwährend seine Augen nach demselben richtete, um Adelaide darin ansehen zu können, so diente jene kleine Mädchenlist nur dazu, beide abwechselnd in Verlegenheit zu bringen. Während Hippolyt mit Frau Leseigneur sprach, denn er erteilte auch ihr diesen Namen, prüfte er den Salon, aber auf dezente und verstohlene Weise. Der Herd das Kamins war voll Asche, und auf den Eisenstäben lagen zwei Feuerbrände, die kaum noch glimmten. Glücklicherweise lag ein alter und vielfach geflickter Teppich, der abgenutzt war wie der Rock eines Invaliden, auf dem Fußboden und machte gegen dessen Kälte unempfindlich. Die Wände waren mit einer Tapete bekleidet, die gelbe Zeichnungen auf rötlichem Grunde auswies. In der Mitte der Wand, den Fenstern gegenüber, bemerkte Hippolyt die Spalten einer Tapetentür, die wahrscheinlich nach einem Alkoven führte, in dem Frau Leseigneur schlief. Ein Kanapee war vor diese geheime Tür gestellt, verhehlte sie aber nur unvollkommen. Dem Kamine gegenüber sah man eine sehr schöne Komode von Acajou, deren Verzierung es weder an Reichtum noch an gutem Geschmack fehlte. Darüber hing ein Bild, das einen höheren Offizier darstellte, doch vermochte der Maler bei der geringen Beleuchtung die Waffengattung nicht zu unterscheiden, der jener angehörte. Übrigens war es auch eine schreckliche Kleckserei, die mehr chinesischen als Pariser Ursprungs zu sein schien. Die Vorhänge der Fenster waren von roter Seide, aber verblichen, wie die Überzüge der Stühle. Auf dem Marmor der Kommode stand ein kostbares Tablett von grünem Malachit, das ein Dutzend bemalter Kaffeetassen trug, und auf dem Kamine eine Pendeluhr, darauf ein Krieger ein Viergespann führte. Die Kerzen der Leuchter, die zu beiden Seiten der Uhr standen, waren durch den Rauch vergilbt. Die beiden Ecken des Kaminsimses trugen eine Vase von Porzellan mit einem Strauß künstlicher Blumen, die mit Moos geschmückt und voll Staub waren. In der Mitte des Zimmers bemerkte Hippolyt einen aufgeklappten Spieltisch mit neuen Karten. Für den Beobachter lag etwas Trostloses in dem Anblick dieses Elends, das sich hinter einem gewissen Glanz zu verstecken suchte, wie eine alte Frau hinter den Spitzen der Haube und der Fülle falscher Locken die Runzeln ihres Antlitzes zu verbergen bemüht ist. Jeder verständige Mann hätte sich bei diesem Anblick in einem Dilema befunden: entweder sind diese beiden Frauen die Rechtschaffenheit selbst, oder sie leben von Intrigen und vom Spiel. Wenn aber ein junger und unschuldiger Mann, wie Hippolyt, Adelaide sah, so mußte er an die vollkommenste Unschuld glauben und den Mängeln des Mobiliars die ehrenvollsten Ursachen unterlegen. "Meine Tochter," sagte die alte Dame zu dem jungen Mädchen, "mich friert, heize ein wenig ein und gib mir meinen Schal." Adelaide ging in eine Kammer, die an das Wohnzimmer stieß, und in der sie ohne Zweifel schlief. Als sie zurückkehrte, übergab sie ihrer Mutter einen Schal von Kaschmir, der, als er noch neu war, für eine Königin nicht zu schlecht gewesen sein mochte. Hippolyt erinnerte sich nicht, je so reiche Farben, ein so vollendetes Muster gesehen zu haben, wie in diesem schönen Gewebe, allein der Schal war nun alt, hatte seine Frische verloren, war voll geschickt eingesetzter Flicken und harmonierte vollkommen mit dem übrigen Gerät. Frau Leseigneur hüllte sich kunstvoll hinein und in einer Art, die bewies, daß sie wirklich friere. Das junge Mädchen eilte darauf schnell in das "Kapernaum" und kehrte mit einer Hand voll Späne zurück, die sie in den Kamin warf, um die erloschenen Brände wieder anzufachen. Es würde eine schwierige Aufgabe sein, die Unterhaltung wiederzugeben, die zwischen den drei Personen stattfand. Geleitet durch jenen Takt, den man fast stets durch Leiden erlangt, unter denen man von Kindheit an geseufzt hat, erlaubte sich Hippolyt nicht die geringste Bemerkung bezüglich der Lage seiner beiden Nachbarinnen, während er allenthalben die Kennzeichen einer großen und schlecht verhehlten Dürftigkeit erblickte. Auch die einfachste Frage würde unbescheiden gewesen sein und hätte nur einem alten Freunde verziehen werden können. Dennoch wurde der Maler sehr von diesem verborgenen Elend gerührt, sein edelmütiges Herz litt darunter; aber er wußte, daß auch das freundschaftlichste Mitleid beleidigend sein kann, und fand sich daher durch den Mißklang beengt, der zwischen seinen Gedanken und seinen Worten bestand. Die beiden Damen errieten gar leicht die geheime Verlegenheit, die durch einen ersten Besuch veranlaßt wird, vielleicht, weil sie dieselbe mitfühlen und die Natur ihres Geistes ihnen tausend Hilfsquellen gewährt, um jene Verlegenheit aufzuheben. Adelaide und ihre Mutter fragten den jungen Mann nach dem materiellen Verfahren seiner Kunst und nach seinen Studien, indem sie ihn allmählich zum Sprechen aufzumuntern suchten. Die Nichtigkeit ihrer von Wohlwollen beseelten Unterhaltung führte ohne Zwang dahin, daß er Bemerkungen und Reflexionen machte, die die Beschaffenheit seiner Sitten und seiner Seele verrieten. Die alte Dame mochte einmal schön gewesen sein, allein ein geheimer Kummer hatte ihr Antlitz vor der Zeit welken lassen, so daß ihr nur noch die hervorspringenden Züge, die Umrisse, kurz, das Skelett einer Physiognomie übrig geblieben war, deren Gesamtheit auf eine große Feinheit deutete, während besonders das Spiel der Augen viel Anmut und jenen Ausdruck zeigte, der den Damen des alten französischen Hofes eigentümlich ist, und den man durch Worte nicht zu beschreiben vermag. Allein die Gesamtheit dieser feinen und hervortretenden Züge konnte ebensogut schlechte Gesinnung verraten, weibliche List und Schlauheit, selbst einen hohen Grad der Verdorbenheit vermuten lassen, als die Zartheit einer schönen Seele offenbaren. Der gewöhnliche Beobachter gerät vor weiblichen Gesichtern oft in Verlegenheit und weiß die Offenheit von der Verstellung, das Talent der Intrige von der Herzlichkeit nicht zu unterscheiden. Man muß die fast unmerklichen Nuancen zu erraten wissen. Es ist bald eine mehr oder weniger gekrümmte Linie, bald ein mehr oder weniger ausgehöhltes Grübchen, eine mehr oder weniger gewölbte oder hervorspringende Biegung, die man zu würdigen suchen muß; die Augen allein können uns das entdecken lassen, was ein jeder zu verstecken sucht, und die Wissenschaft des Beobachters liegt in der schnellen Wahrnehmungskraft seines Blickes. Es ging demnach mit dem Antlitz der alten Dame wie mit der Wohnung, die sie innehatte; es schien ebenso schwierig zu durchblikken, ob dieses Elend Laster berge oder eine hohe Rechtschaffenheit, sowie es schwierig war, zu erkennen, ob Adelaidens Mutter eine alte Kokette sei, gewöhnt, alles zu erwägen, alles zu berechnen, alles zu verkaufen, oder ein liebendes und schwaches Weib, voll Anmut und Zartgefühl. In jenem Alter, in dem Hippolyt Schinner stand, glaubt man aber am liebsten an das Gute, und er glaubte daher gewissermaßen den angenehmen und bescheidenen Duft der Tugend einzuatmen, indem er Adelaides Stirn sah und in ihre Augen blickte, die voll Herz und Geist waren. Während der Unterhaltung ergriff er die Gelegenheit, von den Porträts im allgemeinen zu sprechen, um dann zu dem schrecklichen Pastellgemälde übergehen zu können, von dem die Farben größtenteils abgefallen waren. "Sie lieben diese Malerei wohl wegen der Ähnlichkeit, meine Damen, denn die Zeichnung selbst ist schauderhaft ..." sagte er mit einem Blick auf Adelaide. "Es ist in Kalkutta gemalt, und zwar in großer Eile!" antwortete die Mutter mit bewegter Stimme. Dann betrachtete sie die formlose Skizze mit jener tiefen Versunkenheit, die die plötzliche Erinnerung an ein Glück verrät, das wohltuend für das Herz gewesen ist, wie der Tau des Morgens für die Blumen des Sommers. Zugleich lagen aber in dem Ausdruck, den die Züge der alten Dame zeigten, die Spuren einer tiefen Trauer; wenigstens glaubte sich der Maler die Haltung und das Aussehen seiner Nachbarin so erklären zu müssen. Er setzte sich neben sie und sagte mit freundschaftlicher Stimme: "Meine Dame, noch kurze Zeit, und die Farben dieses Pastellbildes werden verschwunden sein. Das Porträt wird bald nur noch in Ihrer Erinnerung bestehen, und wo Sie geliebte Züge erblickten, werden andere nichts mehr wahrnehmen können. Wollen Sie mir erlauben, dieses Bild auf die Leinwand zu übertragen? So wird es dauerhafter sein, als auf Papier.... Gewähren Sie mir, als ihrem Nachbar, die Gunst, Ihnen diesen Dienst zu leisten. Es gibt Stunden, während deren ein Künstler sich gern von seinen großen Kompositionen erholt und dagegen eine einfachere Arbeit vornimmt. Es wird eine Zerstreuung für mich sein, dieses Bild zu malen." Die alte Dame wurde lebhaft bewegt durch diese Worte, und Adelaide warf dem Maler einen jener verstohlenen Blicke zu, in denen sich das ganze Herz widerzuspiegeln scheint. Hippolyt wollte auf irgendeine Weise mit seinen beiden Nachbarinnen in Verbindung treten und das Recht erlangen, an ihrem Leben teilzunehmen. Das einzige aber, was er tun konnte, war jenes Anerbieten; es befriedigte seinen Künstlerstolz und hatte nichts Verletzendes für die beiden Damen.--Frau Leseigneur nahm das Anerbieten an. "Es scheint mir," sagte Hippolyt, "als ob die Uniform auf einen Marineoffizier deutete?" "Ja," antwortete sie, "es ist die Uniform der Schiffskapitäne. Herr von Rouville, mein Mann, starb in Batavia an den Folgen einer Wunde, die er in einem Gefecht mit einem englischen Schiffe erhielt, dem er an Asiens Küsten begegnete. Er befehligte eine Fregatte von sechzig Kanonen, während die Revenge ein Schiff mit sechsundneunzig Kanonen war. Der Kampf war demnach sehr ungleich, aber Herr von Rouville verteidigte sich so mutig, daß er sich bis zum Eintritt der Nacht halten konnte, worauf er seinem Feind durch die Flucht entging. Als ich nach Frankreich zurückkehrte, war Bonaparte nicht mehr im Besitz der Macht, und man verweigerte mir eine Pension. Als ich abermals um eine solche nachsuchte, entgegnete mir der Minister mit Härte, daß der Baron von Rouville noch leben und ohne Zweifel Kontreadmiral sein würde, wenn er emigriert wäre. Ich hätte jene demütigenden Schritte gar nicht getan, hätte ich nicht um meiner armen Adelaide willen sie zu tun müssen geglaubt, und wäre ich nicht von meinen Freunden dazu veranlaßt worden. Was mich betrifft, so widerstrebte es mir stets, meine Hand auszustrecken und mich dabei auf einen Schmerz zu berufen, der einer Gattin weder Kraft noch Worte lassen kann. Ich hasse diesen Geldlohn für untadelhaft vergossenes Blut...." "Meine Mutter, diese Erinnerung erschüttert Dich...." Nach dieser Bemerkung ihrer Tochter neigte die Baronin von Rouville ihr Haupt und schwieg. "Mein Herr," sagte das junge Mädchen zu Hippolyt, "ich glaubte, die Arbeiten der Maler seien im allgemeinen wenig geräuschvoll.... Sie scheinen aber...." Schinner errötete bei diesen Worten und lächelte; Adelaide endete aber ihre Bemerkung nicht und ersparte ihm eine Lüge, indem sie sich bei dem Rollen einer Kutsche, die vor der Türe anhielt, rasch erhob. Sie ging in ihre Kammer und kehrte sogleich mit zwei vergoldeten Leuchtern zurück, deren Kerzen sie schnell anzündete. Die Lampe stellte sie darauf in das Vorzimmer und öffnete sofort die Tür, ohne erst zu warten, daß die Klingel gezogen werde. Hippolyt hörte darauf einen Kuß empfangen und erwidern, und empfand einen peinlichen Schmerz. Der junge Mann erwartete mit Ungeduld den zu erblicken, der Adelaide so vertraulich behandelte; allein die Angekommenen unterhielten sich erst leise mit dem jungen Mädchen. Das Gespräch kam ihm zu lang vor. Endlich erschien sie wieder, und ihr folgten zwei Manner, deren Anzug, Physiognomie und Aussehen eine ganze Geschichte enthielten. Der erstere mochte etwa sechzig Jahre alt sein und trug eines jener Kleider, die unter der Regierung Ludwig XVIII. erfunden wurden, und in denen der Schneider, der die Unsterblichkeit verdiente, das schwierigste Kleidungsproblem gelöst hatte. Dieser Meister verstand sich gewiß auf die Kunst der Übergänge, da jene so politisch bewegte Zeit überhaupt eine Zeit der Übergänge war. Jedesmal aber müssen wir demjenigen ein seltenes Verdienst zuerkennen, der seine Zeit zu beurteilen versteht. Jenes Gewand, an dessen Schnitt sich noch mancher in unserer Zeit erinnert, war weder bürgerlich noch militärisch, konnte aber nach dem Bedürfnis abwechselnd für bürgerlich und für militärisch gelten. Lilien waren auf die Umschläge der beiden     >>>
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