Honore de Balzac - Große und Kleine Welt - Seite 5
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dem sie als
junges Mädchen und in dem
ganzen Glanze
ihrer Schönheit auf
Kosten ihres Herzens und ihrer schönsten
Illusion
jene
Entzauberung erlitt, die uns so langsam
erreicht und doch
auch so schnell, da wir stets erst so spät als
möglich an das Böse glauben
wollen, wie uns das Böse
immer noch zu schnell zu
kommen scheint, jener Tag war
demnach für sie ein
ganzes Jahrhundert des
Nachdenkens, sowie
zugleich
der Tag der frommen
Gedanken und der Entsagung. Sie
verschmähte
die Almosen
dessen, der sie
betrogen hatte,
entsagte der Welt
und
machte sich einen Ruhm aus ihrem Fehltritt. Sie widmete
sich ganz und gar nur der
mütterlichen Liebe und verlangte
von
dieser, während sie allen
weltlichen Genüssen entsagte, die
geheimen
Wonnen eines ruhigen und
ungekannten Lebens. Sie lebte von ihrer
Arbeit und
häufte sich einen
Schatz auf in ihrem Sohne.
Ein Tag, eine
Stunde vergalt ihr daher
später die
langen
und langsamen Opfer ihrer Armut. Bei der letzten
Ausstellung hatte
ihr Sohn,
Hippolyt Schinner, das Kreuz der
Ehrenlegion erhalten, und
die Zeitungen, die
einmütig das
unbekannte Talent feierten, ergingen sich
noch immer in
aufrichtigen Lobsprüchen. Die
Künstler selbst erkannten in
Schinner einen Meister, und seine Gemälde
wurden mit Gold
aufgewogen.
In
seinem fünfundzwanzigsten Jahre hatte
Hippolyt Schinner, dem seine
Mutter
eine weibliche Seele, eine große
Zartheit der
Organe und
unendliche
Reichtümer des Herzens vererbt hatte,
besser denn je seine
Stellung
in der Welt erkannt. Er
wollte seiner Mutter alle die
Freuden erstatten, deren sie so lange Zeit entbehrte, lebte daher
nur für sie und
hoffte, durch
seinen Ruhm und
seinen
Reichtum auch sie glücklich, reich und angesehen zu
machen. Schinner
hatte seine Freunde unter den
achtenswertesten und
ausgezeichnetsten Männern gewählt;
er war
peinlich in der Wahl
seiner Bekannten und
wollte
durch diese seine
Stellung noch mehr erhöhen, die
ohnedies schon
durch sein
Talent eine hohe war. Die
hartnäckige Arbeit, der
er sich von
seiner Jugend an
weihte, hatte ihm den
schönen Glauben
erhalten, der die
ersten Tage des
Lebens schmückt,
indem sie ihn zwang, in der
Einsamkeit zu bleiben, bei
dieser Mutter der
großen Gedanken. Sein reifender Geist verkannte das
tausendfältige Schamgefühl nicht, das aus einem junge Manne ein
besonderes
Wesen macht,
dessen Herz reich ist an
Glückseligkeiten, an Poesien
und
jungfräulichen Hoffnungen, ein Wesen, das schwach erscheint in den
Augen
stumpfsinniger Menschen, aber tief ist, weil es einfach ist.
Er besaß jenes
sanfte und
höfliche Benehmen, das die
Herzen
gewinnt und
selbst die bezaubert, von denen es nicht begriffen
wird. Er war schön gewachsen und seine
Stimme hatte einen
silberreinen Ton. Sah man ihn, so
fühlte man sich zu
ihm
hingezogen durch eine jener
moralischen Anziehungskräfte, die
unsere allwissenden
Psychologen glücklicherweise noch nicht zu
erklären verstehen; sie
hätten in
derselben
vielleicht eine
Erscheinung des
Galvanismus erkannt oder das Spiel
irgend eines
Fluidums; denn wir möchten ja jetzt
selbst unsere
Gefühle durch
elektrische oder
magnetische Strömungen erklären. Diese
Einzelheiten machen
vielleicht den Männern von
kühnem Charakter mit
wohlbestellten Halsbinden begreiflich,
warum
Hippolyt Schinner nicht eine Frage inbezug auf die
beiden
Damen, deren gutes Herz er
kennen gelernt hatte, an die
Türsteherin richtete, während der Mann derselben nach dem Ende der
Rue de la Madelaine
geeilt war, um einen Wagen zu
holen.
Obgleich er nur mit Ja und Nein auf die
bei einer solchen
Gelegenheit natürlichen Fragen antwortete, die die
Türsteherin
im
Hinblick auf
seinen Unfall und auf die
Hilfeleistung der
Mieterinnen im vierten Stock an ihn
richtete, so
konnte er
dieselbe doch nicht
verhindern, dem
Instinkt der Türsteher zu
folgen,
und sie
erzählte ihm nun nach ihrer Weise, was sie
von den
beiden Unbekannten wußte. "Ach!" sagte sie, "das ist
ohne Zweifel
Fräulein Leseigneur mit ihrer
Mutter gewesen! Sie
wohnen
hier seit vier
Jahren und wir
wissen immer noch nicht,
was sie treiben. Nur des Morgens, bis
Mittag etwa, erscheint
eine alte
Aufwärterin, die halb taub ist und stumm wie
eine Wand, um sie zu
bedienen; abends kommen dann zwei
oder drei alte
Herren, die ebenfalls Orden
tragen, wie Sie,
mein Herr. Der eine hat eine Kutsche,
Bediente und gegen
fünfzigtausend Livres Rente. Oft bleiben die alten
Herren bis spät
in die Nacht.
Übrigens sind sie recht
ruhige Mietleute, wie
Sie, mein Herr; aber sparsam; o, ich sage Ihnen, sie
leben gleichsam von
Nichts!... Wenn ein Brief kommt, so
bezahlen
sie ihn auf der
Stelle. Wunderlich ist es, mein Herr,
daß die
Mutter anders heißt als die Tochter.... Ach! wenn
sie in die Tuilerien gehen, so
überstrahlt das
Fräulein alle
andern jungen Damen, die
jungen Herren laufen ihr bis vor
das Haus nach, sie aber schlägt ihnen die Tür vor
der Nase zu. Na, der
Hauseigentümer würde aber auch nicht
dulden...." Der Wagen war jetzt
angekommen; Hippolyt hörte nicht
weiter
auf die alte
Schwätzerin, sondern fuhr
sogleich nach Hause. Seine
Mutter, der er
seinen Unglücksfall erzählte, verband
nochmals die Wunde
an der Stirn und
erlaubte ihm am folgenden Tage nicht,
in seine Werkstatt zu gehen. Sie rief einen Arzt
herbei;
verschiedene Vorschriften wurden von demselben gegeben und
Hippolyt blieb zwei
Tage zu Hause.
Währenddessen rief ihm seine
unbeschäftigte Einbildungskraft die
Einzelheiten des
Auftrittes ins
Gedächtnis zurück, der sich nach
seiner
Ohnmacht vor
seinen Augen
zugetragen hatte. Die Züge des
jungen
Mädchens schwebten dabei
häufig an
seinen Blicken vorüber und dann
sah er das
gewelkte Antlitz der
Mutter, oder
fühlte noch
Adelaidens sanfte Hände.
Manchmal erinnerte er sich an eine
Bewegung
oder einen Blick des
Mädchens, das er anfangs
unbeachtet gelassen
hatte, deren
Erinnerung ihm aber jetzt eine seltene Anmut enthüllte;
ein
andermal erinnerte er sich an eine
Stellung oder an
den Klang ihrer
melodischen Stimme; die
Erinnerung verschönerte die
geringsten
Zufälligkeiten aus
diesem Abschnitt
seines Lebens. Als er am dritten
Tage
frühzeitig nach
seiner Werkstatt eilte, waren nicht seine
begonnenen
Gemälde, sondern der
Besuch, den er bei
seinen Nachbarinnen abstatten
mußte, der wahre Grund
seiner Eile. In dem
Augenblicke, in
dem sich eine Liebe aus ihrem Keime
entwickelt, werden wir
von
unerklärlichen Wonnen ergriffen. Das
wissen alle, die je geliebt
haben. Mancher Leser wird daher begreifen, weshalb der Maler so
langsam die
Stufen zum vierten Stock
hinanstieg, weshalb sein Herz
so schnell und
heftig schlug, als er die
braune Tür
der
bescheidenen Wohnung erblickte, in der er
Fräulein Leseigneur wußte.
Dieses Mädchen, das den Namen
seiner Mutter nicht
führte, hatte
tausend
Sympathien in dem
Herzen des
jungen Malers erweckt. Er
glaubte, eine
Ähnlichkeit zwischen ihrer Lage und der
seinigen zu
finden, und
stattete sie mit allen
Leiden seins eigenen Ursprungs
aus. Er
arbeitet und
überließ sich dabei
wonnigen Gedanken der
Liebe,
machte in einer Absicht, die er sich
selbst nicht
besonders zu
erklären wußte, viel
Geräusch, gleichsam als wolle er
die
beiden Damen dadurch zwingen,
ebenso an ihn zu
denken,
wie er an sie
dachte. Er blieb sehr lange in
seiner Werkstatt, speiste dort und begab sich dann gegen
sieben
Uhr zu
seinen Nachbarinnen. Selten haben uns die
Sittenschilderer durch
ihre
Erzählungen oder Schriften in das
wahrhaft merkwürdige Innere eines
gewissen Pariser Daseins
eingeweiht, in das Geheimnis jener Wohnungen nämlich,
aus denen so
elegante Toiletten, so
strahlende Damen
hervorgehen, die,
reich nach außen, zuhause
allenthalben die Zeichen eines
zweifelhaften Vermögens
erblicken
lassen. Wenn wir hier das Gemälde einer solchen
Häuslichkeit
mit raschen
Pinselstrichen entwerfen, so
beschuldige man die Erzählung nicht
etwa der
Breite; denn diese
Beschreibung bildet gewissermaßen ein wichtiges
Glied der Erzählung. Der Anblick der Wohnung, die die
beiden
Damen
innehatten, erzeugte einen
bedeutenden Einfluß auf
Hippolyt Schinners Gefühle
und
Hoffnungen. Zunächst zwingt uns die
geschichtliche Wahrheit zu dem
Bekenntnis, daß der
Besitzer des
Hauses zu jenen
Leuten gehörte,
die einen
tiefen Abscheu gegen alle
Ausbesserungen und
Verschönerungen hegen,
zu jenen Männern, die ihre
Stellung als Pariser
Hauseigentümer gleichsam
als einen Stand
betrachten, der in der
großen Kette der
moralischen Spezies
zwischen den
Geizhälsen und Wucherern die
gerechte Mitte
einnimmt. Optimisten durch
Berechnung, sind sie
sämtlich dem
System des
Status quo des Herrn von
Metternich treu. Spricht man davon,
eine Tür,
irgend eine
Bekleidung sei zu verändern oder auch
nur die
notwendigste Ausbesserung vorzunehmen, so
beginnen ihre Augen sich
zu
trüben, ihre Galle kommt in Aufregung und sie
bäumen
sich,
gleich erschreckten Pferden. Hat der Wind
einige Ziegeln von
ihren Dächern
herabgeworfen, so
werden sie krank und vermeiden für
einige Zeit den
Besuch des
Theaters oder
Bierhauses, um das
wieder zu
ersparen, was die
Ausbesserung kostet. Hippolyt hatte bei
Gelegenheit einiger
Ausbesserungen und
Verschönerungen, die in
seiner Werkstatt
vorzunehmen
waren, die
Gratisvorstellung einer komischen Szene von
seinem Hauswirte
bekommen
und
wunderte sich daher nicht über die schwarzen und
fetten
Töne, über die
öligen Färbungen, über die Flecken und das
andere widerwärtige Zubehör, das sich an dem
Holzwerk der Wohnung
zeigte. Diese
Merkmale der Armut sind in den Augen eines
Künstlers nicht ohne
Poesie. Fräulein Leseigneur öffnete
selbst die Tür.
Als sie den
jungen Maler sah,
begrüßte sie ihn,
wandte
sich aber mit jener Pariser
Gewandtheit und jener durch den
Stolz
verliebenen Geistesgegenwart um, die
Glastüre eines
Verschlages zu schließen,
durch die
Hippolyt zum
Trocknen aufgehängte Wäsche hätte sehen
können,
sowie auch ein altes
Gurtenbett, ein
Kohlenbecken, Kohlen, Plätteisen und
all jenes Gerät, das in kleinen
Wirtschaften stets zur Hand
ist.
Vorhänge von
Musselin, die vor den
Glasscheiben der Tür
angebracht waren,
verhinderten nun jeden
Einblick in
dieses "Kapernaum", wie
man jetzt in der Sprache von Paris
solche Arten von
Wirtschafts und
Vorratskammern nennt; diese hier wurde durch
kleine Fenster
erhellt, die auf einen
benachbarten Hof führten. Mit jenem grausamen
und schnellen
Beobachtungsblick, der den Künstlern eigen ist,
erkannte Hippolyt
die
Bestimmung, die Möbel und den Zustand
dieses ersten Raumes,
der in zwei
Abteilungen geschieden war. Der bessere Teil, der
zu
gleicher Zeit als Vorzimmer und
Speisesaal diente, war mit
einer alten,
rosenfarbenen Papiertapete beklebt, deren Flecken und
Löcher ziemlich
sorgfältig unter Bildern versteckt waren, von deren
Rahmen das Gold
längst geschwunden. In der Mitte
dieses Zimmers stand ein Tisch
von
altertümlicher Form und mit
abgenutzten Rändern. Die
Stühle zeigten
einige Spuren verschwundenen Glanzes;
allein der rote
Maroquin des
Sitzes
und die
vergoldeten Nägel
hatten ebensoviele Wunden, wie die alten
Sergeanten des
Kaiserreiches. Überdies befanden sich in
diesem Zimmer noch
manche Gegenstände, die man nur in solchen
Wirtschaften antrifft, die
man mit Amphibien
vergleichen könnte, indem sie halb an den
Glanz und halb an das Elend grenzen. So erblickte
Hippolyt
zum
Beispiel ein sehr schönes
Perspektiv, das über dem kleinen
grünlichen Spiegel hing, der den Kamin
zierte. Um
dieses wunderliche
Mobiliar vollständig zu
machen, stand
zwischen dem Kamin und dem
Verschlag noch ein
schlechtes Buffet, das nach Acajou-art
angestrichen war,
obgleich das
Acajou von allen Hölzern dasjenige ist,
dessen Nachahmung
am wenigsten gelingt. Der rote und
glatte Fußboden, die
schlechten
kleinen
Teppiche, die vor den Stühlen lagen, die
Sauberkeit der
Möbel, das alles
zeugte jedoch von jener
Aufmerksamkeit, die den
Altertümern einen
falschen Glanz
verleiht, und deren
Gebrechlichkeit, Alter und
Abgenutztheit nur noch mehr
hervorhebt. Es herrschte in
diesem Zimmer
ein
unbeschreiblicher Geruch, der notwendig von den
Ausdünstungen des "Kapernaum"
in
Verbindung mit den
Gerüchen des
Speisezimmers und der
Treppe
entstehen mußte, abschon ein Fenster halb
geöffnet war. Die Luft
von der
Straße bewegte die
Vorhänge von
Perkal, die mit
einer solchen
Sorgfalt vorgesteckt waren, daß sie die
Fensterbekleidung den
Blicken
entzogen, denn an
dieser hatten alle
früheren Bewohner des
Zimmers durch
verschiedene Inkrustationen, gewissermaßen häusliche
Freskogemälde, Beweise ihres Daseins
zurückgelassen. Adelaide öffnete rasch die Tür des anderen Zimmers und
führte den Maler mit einer
gewissen Freude hinein. Hippolyt hatte
einst bei
seiner Mutter dieselben Zeichen der Armut
kennen gelernt,
und als er sie jetzt mit jener
eigentümlichen Lebhaftigkeit, die
die
ersten Eindrücke unseres
Gedächtnisses charakterisiert, wahrnahm, erschlossen sich ihm
weit mehr als jedem
andern die
Einzelheiten dieses Lebens. Er
erkannte hier die Dinge
seiner Kindheit wieder und empfand weder
Verachtung gegen diese
versteckte Armut, noch Stolz auf den Luxus,
mit dem er
neuerdings seine
Mutter umgeben
hatte.--"Nun, mein Herr,
ich hoffe, daß Sie die
Folgen Ihres Sturzes
überwunden haben!..."
sagte die alte
Mutter zu ihm, während sie sich aus
einem
altertümlichen Armsessel erhob, der neben dem Kamin stand, und
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