Honore de Balzac - Große und Kleine Welt - Seite 9
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alte
Mutter alle Tage in
dieser Allee;
allein sie hat
ein Antlitz und eine Haltung, die alles erraten
lassen.... Wie!
hast Du an der Art, wie sie ihren
Strickbeutel hält,
nicht schon erkannt, was sie ist?" Die
beiden Freunde
lustwandelten
lange Zeit, und mehrere junge
Männer, die
entweder Daniel oder
Hippolyt kannten, gesellten sich zu ihnen. Der Bildhauer
erzählte ihnen
das Abenteuer des
Malers, weil er es für sehr unwichtig
hielt. Nun
wurden Bemerkungen vorgebracht, Spötteleien wurden unschuldig und mit
der
ganzen Heiterkeit, die Künstlern eigen ist, zum
besten gegeben.
Hippolyt litt furchtbar
darunter. Er schämte sich, als er das
Geheimnis
seines Herzens so
leichtsinnig behandelt, seine Liebe in
Fetzen
zerrissen sah, als er hörte, daß man ein
junges unbekanntes
Mädchen,
dessen Leben ihm so
bescheiden geschienen hatte, den
rücksichtslosesten
Beurteilungen unterwarf, mochten dieselben richtig sein oder
falsch. Aus einem
Gefühl des
Widerspruchs verlangte er ernstlich von einem jeden
Beweis
für seine
Behauptungen; doch gab dies nur Anlaß zu neuen
Spöttereien. "Aber, mein
lieber, hast Du den Shawl der Baronin
gesehen?"
fragte einer. "Hast Du die
Kleine gesehen, wenn sie
des Morgens nach der
Assomption geht?"
fragte ein anderer. "Die
Mutter besitzt unter anderen
Tugenden auch ein
gewisses graues Kleid,
das ich als einen Typus betrachte." "Höre,
Hippolyt ..." sagte
ein
Kupferstecher, "komm um vier Uhr hierher und beobachte ein
wenig den Gang der
Mutter und der Tochter.... Wenn Du
dann noch Zweifel hast ... nun, dann wird im Leben
nichts aus Dir.... Du
wärest fähig, die Tochter
Deiner Türsteherin
zu
heiraten." Hippolyt wurde von den
widerstreitendsten Gefühlen ergriffen und
verließ seine Freunde.
Adelaide erschien ihm über alle
Anklagen erhaben,
und er empfand im Innersten
seines Herzens eine gewisse Reue,
daß er an der
Reinheit eines so schönen und einfachen
jungen Mädchens gezweifelt habe. Er
kehrte nach
seiner Werkstatt
zurück,
ging an der Tür vor Adelaides Wohnung vorüber und
fühlte
einen inneren Schmerz,
hinsichtlich dessen sich kein Mann täuscht. Er
liebte Fräulein von
Rouville leidenschaftlich und
betete sie
selbst jetzt
noch an,
ungeachtet des
Diebstahls seiner Börse. Seine Liebe war
wie die des
Chevaliers Desgrieux, der seine
Geliebte selbst auf
dem
Karren, der die
verlorenen Weiber in das Gefängnis fährt,
noch
bewunderte und für rein hielt. "Warum
sollte sie nicht
durch meine Liebe das reinste von allen
weiblichen Wesen
werden!...
Warum
sollte ich sie dem Unglück und dem
Laster überlassen,
ohne ihr eine
freundschaftliche Hand zu reichen!?..." Diese Aufgabe
gefiel
ihm, denn die Liebe weiß alles zu
benutzen, und
nichts
lockt einen
jungen Mann mehr, als die
Aussicht, bei einem
jungen Mädchen die Rolle eines guten
Engels spielen zu
können.
Es liegt etwas
Romantisches in
diesem Unternehmen, das
empfindsamen Seelen
so sehr gefällt. Es ist
Aufopferung in ihrer
erhabensten und
anmutigsten Form; es liegt
soviel geistige Größe darin, sich
bewußt
zu sein, daß man
hinreichend liebt, um
selbst da noch
zu
lieben, wo bei anderen die Liebe
erlischt und
stirbt!
Hippolyt begab sich in seine
Werkstätte und
betrachtete seine Gemälde,
ohne daran zu
arbeiten; er erblickte die Gestalten nur durch
die
Tränen, die ihm in die Augen
traten, hielt
fortwährend
seinen Pinsel in der Hand und näherte sich der
Leinwand,
berührte sie aber nicht. Die Nacht
überraschte ihn in
seinen
Träumereien; er eilte die
Treppe hinab, begegnete dem alten Admiral,
warf ihm einen finsteren Blick zu, während er ihn
begrüßte,
und eilte
hinweg. Es war seine Absicht gewesen, bei
seinen
Nachbarinnen einzutreten, aber der Anblick von Adelaides
Gönner ließ ihm
das Herz erstarren und ihn
seinen Entschluß
aufgeben. Er
fragte
sich zum
hundertsten Male, was den alten reichen Mann, der
fünfzigtausend Livres Renten hatte, so
unwiderstehlich in jenen vierten Stock
ziehe, wo er alle
Abende zehn bis zwanzig Franken
verlor,
und er
erriet seinen Zweck. An den folgenden Tagen widmete
sich
Hippolyt mit allem Eifer
seinen Arbeiten, um durch diese
und durch die Ablenkung
seiner Phantasie auf einen anderen
Gegenstand
seine
Leidenschaft zu bekämpfen. Seine Absicht
gelang ihm zur
Hälfte;
die
Arbeiten trösteten ihn,
vermochten aber die
Erinnerung an so
viele
glückliche Stunden, die er neben
Adelaide verlebt hatte, nicht
zu verbannen. Als er an einem der
nächsten Abende seine
Werkstatt verließ, fand er die Tür zu der Wohnung der
beiden Damen halb
geöffnet. Eine weibliche Gestalt stand in der
Brüstung des
Fensters, und er
konnte nicht
vorübergehen, ohne von
Adelaide gesehen zu
werden. Er
begrüßte sie kalt und warf
ihr einen
gleichgültigen Blick zu,
schloß dann aber von
seinem
Kummer auf den des
jungen Mädchens und
fühlte eine heftige
Rührung, als er die ganze
Bitterkeit erwog, die sein Blick
und seine Kälte in einem liebenden
Herzen hervorbringen mußten. Eine
Wonne, wie die
beiden sie
genossen, durch so tiefe
Vernachlässigung,
durch so tiefe
Verachtung zu
krönen, das war in der
Tat ein
schreckliches Ende!
Vielleicht hatten sie die Börse
wiedergefunden,
vielleicht hatte
Adelaide an jenem Abend ihren
Freund erwartet! Dieser
Gedanke, der so einfach und natürlich war,
erweckte bei
Hippolyt
eine neue Reue, und er
fragte sich, ob die Beweise
von
Zartgefühl und
Anhänglichkeit, die ihm das Mädchen gegeben hatte,
ob die reizenden und
liebevollen Plaudereien, die ihn
entzückt hatten,
nicht
wenigstens eine Frage, eine
Rechtfertigung verdienten. Er schämte sich,
eine ganze Woche lang den
Wünschen seines Herzens
widerstanden zu
haben,
betrachtete sich fast als den
schuldigen Teil und begab
sich noch an demselben Abend zu Frau von
Rouville. Sein
ganzer Verdacht, alle seine bösen
Gedanken entschwanden bei dem Anblick
des
jungen Mädchens, das
bleich und abgehärmt
erschien. "Was fehlt
Ihnen?"
fragte er, nachdem er die Baronin begrüßt hatte.
Adelaide
antwortete ihm nicht, sondern
richtete nur einen
schwermutsvollen, traurigen und
entmutigten Blick auf ihn, der ihm wehe tat. "Sie haben
ohne Zweifel viel
gearbeitet?" fragte die alte Dame; "Sie haben
sich sehr verändert, und wir sind gewiß die Ursache, weshalb
Sie sich jetzt so beständig in Ihrer
Werkstätte einschließen. Das
für uns gemalte Bild hat
wahrscheinlich einige Arbeiten verzögert, die
für Ihren Ruf von
Wichtigkeit sind."
Hippolyt freute sich, eine
so
schöne Entschuldigung seiner Unhöflichkeit zu
finden. "Ja,"
antwortete er,
"ich bin sehr fleißig gewesen, aber ich habe auch viel
gelitten...." Bei
diesen Worten erhob
Adelaide den Kopf und blickte
Hippolyt an; ihre Augen
drückten nur noch Sorge aus, aber
keinen Vorwurf mehr. "Haben Sie denn gedacht, wir wären so
gleichgültig gegen Ihr Glück oder Ihr Unglück?"
fragte die alte
Dame. "Ich habe Unrecht
gehabt!" versetzte
Hippolyt; "aber dennoch gibt
es
Leiden, die man nicht
mitzuteilen wagt,
selbst dann nicht,
wenn die
Freundschaft bereits älter ist als die unsrige."
"Aufrichtigkeit
und
Stärke der
Freundschaft dürfen nicht nach der Dauer der
Zeit
gemessen werden. Es gibt alte Freunde, von denen der
eine nicht
einmal eine Träne für das Unglück des
andern
hat," sagte die Baronin. "Oh, gar
nichts," antwortete die
Mutter.
"Sie hat
einige Nächte bei einer
weiblichen Arbeit gesessen und
nicht auf mich hören
wollen, obgleich ich ihr sagte, daß
es auf einen Tag mehr oder weniger nicht ankomme."
Hippolyt
verlor sich
abermals in
wunderlichen Gedanken. Wenn er diese edlen
und ruhigen Züge
betrachtete, so mußte er über
seinen Verdacht
erröten und den Verlust
seiner Börse
irgend einem
unbekannten Zufall
zuschreiben. Dieser Abend war ein
köstlicher für ihn, und
vielleicht
auch für
Adelaide. Es gibt
Geheimnisse, die
jugendliche Herzen so
leicht erraten; das junge Mädchen
erriet jedenfalls die
Gedanken des
Malers. Der Maler dagegen
erriet die
Gedanken des
Mädchens, kehrte
liebevoller und
freundlicher zu
seiner Geliebten
zurück und
suchte sich
eine
stillschweigende Verzeihung zu
erwerben. Adelaide genoß dagegen so
vollkommene,
so süße Freuden, daß es ihr
schien, als habe sie
dieselben nicht zu teuer durch das Unglück erkauft, das ihre
Liebe so grausam
verletzt hatte.
Dieser so
aufrichtige Einklang ihrer
Herzen, dieses zauberische gegenseitige Verständnis wurde dennoch durch eine Bemerkung
der Baronin von
Rouville gestört. Diese Worte erweckten alle
Befürchtungen
des
jungen Mannes von neuem. Er
errötete, während er
Adelaidens
Mutter anblickte,
bemerkte aber auf ihrem Antlitz nur den
Ausdruck
einer
untrügerischen Herzensgüte. Er
setzte sich an den
Spieltisch, und
Adelaide wollte mit ihm in
Gemeinschaft spielen, indem sie
vorgab,
daß er das
Pikett nicht
verstehe und daher eines
Partners
bedürfe. Frau von
Rouville und ihre Tochter gaben sich während
des Spieles Zeichen des
Einverständnisses, die
Hippolyt umsomehr beunruhigten, da
er der
gewinnende Teil war; zuletzt aber
wurden die
beiden
Liebenden Schuldner der Baronin, und der Maler hob seine Hand
empor, um Geld aus
seiner Tasche zu
nehmen. Da sah
er plötzlich eine Börse vor sich, die
Adelaide dort hingelegt
hatte, ohne daß er es
bemerkte; sie aber hielt seine
alte Börse in der Hand und nahm Geld
daraus, um
ihre
Mutter zu
bezahlen. Hippolyt fühlte, wie ihm alles Blut
zum
Herzen strömte und er nahe daran war, das
Bewußtsein
zu verlieren. Die neue Börse, die ihm anstatt der alten
gegeben war,
enthielt sein Geld; sie war mit
Goldperlen durchwirkt,
und alles an derselben war ein
Beweis von
Adelaidens gutem
Geschmack. Es war dies ein
entzückender Dank des
jungen Mädchens.
Es war unmöglich, auf eine zartere Weise zu
erkennen zu
geben, daß das
Geschenk des
Malers nur durch ein Pfand
der
Zärtlichkeit belohnt
werden könne. Als
Hippolyt im Übermaß
seines
Glückes seine Augen auf
Adelaide und die Baronin
richtete, sah
er beide vor
Freude zittern und
befriedigt, daß ihnen ihr
Betrug so schön
gelungen war. Nun fand er sich
selbst
kleinlich,
verächtlich, albern und hätte sich strafen mögen; aber ein
paar
Tränen traten ihm in die Augen,
unwiderstehlich zwang ihn
sein Herz, sich zu erheben,
Adelaide in seine Arme zu
nehmen, an seine Brust zu drücken, ihr einen Kuß zu
rauben und dann mit der
Aufrichtigkeit eines Künstlers zu der
Baronin zu sagen: "Ich erbitte sie mir zur
Gattin". Adelaide
warf dem Maler einen halb zürnenden Blick zu, und Frau
von
Rouville suchte in ihrer
Bestürzung nach einer Antwort, als
diese Szene durch ein
plötzliches Klingeln unterbrochen wurde. Der alte
Admiral
erschien, gefolgt von
seinem Schatten und von Frau
Schinner.
Hippolyts
Mutter hatte den Grund des Kummers erraten, den ihr
Sohn ihr vergebens zu verbergen
suchte, und bei einigen ihrer
Freunde
Erkundigungen über das junge Mädchen, das er
liebte, eingezogen.
Als sie dann in
gerechte Besorgnisse durch die
Verleumdungen über
Adelaide versetzt war, hatte sie dieselben auch dem alten
Emigrierten
mitgeteilt, der in
seinem Zorne sagte, daß er "den
Neidhammeln
die Ohren
abschneiden werde". In
seinem Zorneseifer verriet er Frau
Schinner dann auch noch, daß er
absichtlich beim Spiel
verliere,
weil der Stolz der Baronin es ihm nicht erlaube, sie
auf
andere Weise zu
unterstützen. Als Frau
Schinner Frau von
Rouville begrüßt hatte, blickte diese den
Kontreadmiral, Adelaide und
Hippolyt
an und sagte mit
unaussprechlicher Herzensgüte: "Nun sind wir also
heute abend im
Familienkreise." Unsere Erzählung
spielt in der Zeit,
in der Napoleons
vergängliche Herrschaft den
höchsten Gipfel ihres Glanzes
und ihrer Macht
erreicht hatte. Es war gegen Ende des
Monats November 1809. Der
Kanonendonner und das
Trompetengeschmetter der berühmten
Schlacht bei
Wagram hallte noch im
Herzen der
österreichischen Monarchie
wieder. Der
Friede war
zwischen Frankreich und den Mächten des
Festlandes unterzeichnet, Könige und Fürsten
demütigten sich vor
Napoleon, der
sich die
Freude machte, ganz
Europa in
seinem Gefolge zu
sehen und eine
prachtvolle Vorfeier der Macht zu
veranstalten, die
er
später in Dresden entfalten
sollte. Die
Zeitgenossen behaupten, daß
Paris nie
schönere Feste gesehen habe, als jene, die der
Vermählung Napoleons mit einer
Erzherzogin von
Österreich vorangingen und ihr
folgten. Nie
hatten sich in den schönsten Tagen der älteren
Monarchie so viele
gekrönte Häupter an den Ufern der Seine
gedrängt, nie war die
französische Aristokratie reicher und
glänzender erschienen
als
damals. Diamanten waren mit einer solchen
Verschwendung in
Schmuckstücken
zur Schau
getragen, Gold und
Silber strahlte von so
vielen
Uniformen
wieder, daß es
schien, als wären alle
Reichtümer des
Erdballs in den
Salons von Paris angehäuft
worden. Eine
allgemeine
Trunkenheit hatte sich
gewissermaßen des
ganzen Reiches
bemächtigt, und alle
Soldaten, den Herrn nicht
ausgenommen, erfreuten sich als
Emporkömmlinge der
Schätze, die eine Million von
Kriegern im
Auslande zusammengerafft hatte.
Einige Damen aus den höheren Sphären der
Gesellschaft trugen damals
jene
leichten Sitten und jene Lockerung der Moral zur Schau,
die ehemals der
Regierungszeit Ludwigs XV. den Stempel der Schande
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