Honore de Balzac - Große und Kleine Welt - Seite 8
<<<
zugleich heißere Liebe. Von
beiden Seiten wurde
dasselbe Zutrauen, dasselbe
Zartgefühl gezeigt, so daß diese
jungfräuliche Leidenschaft ohne jene Opfer
sich
entwickelte, durch die sich viele Leute ihre Liebe zu
beweisen suchen. Es bestand
zwischen ihnen ein
beständiger Austausch süßer
Gefühle, und sie
wußten nicht, wer dabei mehr gab oder
empfing; eine
unwillkürliche Neigung verband ihre
Herzen immer enger. Die
Fortschritte dieses wahren Gefühls geschahen so schnell, daß schon zwanzig
Tage nach dem
Zufall, durch den
Hippolyt seine junge Nachbarin
kennen gelernt hatte, ihr
beiderseitiges Leben ein
einziges geworden war.
Vom
frühen Morgen an, wenn das junge Mädchen die
Schritte
des
Malers hörte,
konnte es sagen: "Er ist in
meiner
Nähe!" Wenn
Hippolyt um die Zeit des
Mittagessens zu
seiner
Mutter zurückkehrte, so verfehlte er nie, seine
Nachbarinnen zu
begrüßen,
und des
Abends erschien er zu der
gewöhnlichen Stunde mit
einer
Pünktlichkeit, wie sie nur ein Liebhaber
zeigen kann. Ein
Mädchen, das die
höchsten Anforderungen in der Liebe
stellt, hätte
dem
jungen Maler nicht den
geringsten Vorwurf
machen können. Adelaide
genoß daher ein Glück ohne Trübung und ohne Grenzen, als
sie das Ideal
verwirklicht sah, das sich jedes junge Mädchen
in ihrem Alter
träumt. Der alte
Edelmann erschien jetzt weniger
oft, und
Hippolyt, der nicht mehr
eifersüchtig auf ihn war,
ersetzte ihn beim Spiel, aber auch mit stets
gleichem Unglück.
Inmitten seines Glücks dachte er
jedoch an die
unangenehme Lage
der Frau von
Rouville, denn er hatte mehr als einen
Beweis ihrer Armut erlangt, und vermochte daher einen
unangenehmen Gedanken
nicht zu verbannen; schon öfter hatte er beim Gehen gedacht:
"Wie! Alle Abend zwanzig Franken!?..." Er wagte indes nicht, sich
einen so häßlichen
Verdacht einzugestehen. Hippolyt verwandte einen
ganzen Monat
auf die
Vollendung des
Bildes. Als es beendet, gefirnißt und
eingerahmt war,
betrachtete er es als eines
seiner besten Werke.
Die Baronin von
Rouville hatte nicht
wieder mit ihm darüber
gesprochen. War es
Sorglosigkeit oder Stolz? Der Maler
wollte sich
dieses Schweigen nicht
erklären. Er kam mit
Adelaide dahin überein,
daß er das Bild während der
Abwesenheit der Frau von
Rouville an seine
Stelle hängen wolle. Es wurde dazu der
achte Juli gewählt, und während eines
Spazierganges, den die
Mutter
täglich nach den Tuilerien unternahm, begab sich
Adelaide allein und
zum
ersten Male in Hippolyts Werkstatt, unter dem Vorwand, das
Bild in der günstigen
Beleuchtung zu sehen, in der es
vollendet war. Sie blieb stumm und
unbeweglich stehen und versank
in eine wonnige
Betrachtung, während der alle ihre
weiblichen Gefühle
in ein
einziges verschmolzen, in die
gerechte Bewunderung des geliebten
Mannes. Als sich der Maler,
beunruhigt durch
dieses Schweigen, vorneigte,
um dem
jungen Mädchen ins Gesicht zu schauen, reichte sie
ihm die Hand, ohne ein Wort sagen zu
können; zwei
Tränen rannen aus ihren Augen.
Hippolyt ergriff ihre Hand und
bedeckte sie mit
Küssen. Einen
Augenblick lang
betrachteten sie sich
schweigend, wollten sich ihre Liebe
gestehen und
wagten es dennoch
nicht. Der Maler hatte
Adelaidens Hand in der
seinigen behalten
und
erkannte aus der
Gleichheit der Wärme und des
Pulsschlages,
daß ihre
beiden Herzen gleich stark für
einander schlugen. Das
junge Mädchen entfernte sich sanft von
Hippolyt und sagte mit
einem
kindlichen Blick: "Sie
werden meine
Mutter sehr glücklich
machen!..."
Der Maler
senkte seine
Blicke und schwieg,
erschreckt durch die
Heftigkeit der Gefühle, die diese Worte in
seinem Herzen erweckt
hatten. Beide begriffen die
Gefahr dieses Augenblicks und begaben sich
daher
hinunter, um das Bild an
seinen Platz zu
hängen.
Hippolyt speiste zum
ersten Mal mit der Baronin und ihrer
Tochter. Frau von
Rouville war so gerührt, daß sie dem
Maler hätte um den Hals
fallen können. Abends erschien der
alte
Emigrierte, der ehemalige Kamerad des
Barons von
Rouville, der
mit ihm auf
brüderlichem Fuße
gelebt hatte, und meldete
seinen
beiden Freundinnen, daß er zum
Kontreadmiral ernannt sei, da man
ihm seine
Landfahrten durch
Deutschland und Rußland als
ebensoviele im
Seedienst
verlebte Jahre
angerechnet habe. Als er das Bild sah,
drückte er mit
Herzlichkeit die Hand des
Malers und sagte:
"Meiner Treu!
Obgleich mein alter
Leichnam nicht der Mühe wert
ist, für die
Nachwelt aufbewahrt zu
werden, so würde ich
doch
fünfhundert Louisdor geben, wenn ich mich
ebenso getreu dargestellt
sehen
könnte, wie mein alter
Rouville!" Bei
diesem Vorschlag blickte
die Baronin ihren
Freund an,
lächelte und ließ auf ihrem
Antlitz den
Ausdruck eines
Dankgefühls erscheinen. Hippolyt glaubte zu erraten,
daß ihm der alte Admiral den Wert für beide
Bilder
geben wolle, indem er das seinige
bezahlte, und
antwortete, weil
sich sein
Künstlerstolz, sowie auch
vielleicht seine
Eifersucht bei
diesem
Gedanken empörte: "Mein Herr, wenn ich überhaupt
Porträts malte, so
würde ich
dieses nicht gemacht haben...." Der Admiral biß sich
auf die
Lippen und
setzte sich an den
Spieltisch. Hippolyt
blieb der
Adelaide, die ihm ebenfalls eine
Partie vorschlug, was
er auch
annahm. Der Maler
bemerkte bei Frau von
Rouville
einen Eifer für das Spiel, der ihn
überraschte. Nie hatte
sie so sehr den
Wunsch gezeigt, zu
gewinnen, und sie
gewann. Während
dieses Abends beunruhigte ein böser
Verdacht den Maler,
störte sein Glück und
flößte ihm Mißtrauen ein. Frau von
Rouville lebte also vom Spiel. Spielte sie nicht in
diesem
Augenblick, um
irgend eine
Schuld abzutragen oder durch
irgend eine
Notwendigkeit gedrängt? Vielleicht hatte sie ihre Miete noch nicht bezahlt?
Der Greis
schien übrigens schlau genug zu sein, um sich
nicht um
nichts und
wieder nichts sein Geld
abnehmen zu
lassen! Welches Interesse
konnte den reichen Mann in
dieses arme
Haus
führen? Warum war er
ehedem so
vertraulich gegen
Adelaide,
und warum hatte er so plötzlich den
Vertraulichkeiten entsagt, die
man sich
vielfach von ihm
gefallen lassen mußte?--Diese Gedanken kamen
ihm
unwillkürlich in den Sinn und
veranlaßten ihn, mit neuer
Aufmerksamkeit den Greis und die Baronin zu
beobachten. Ihre
Blicke
des
Einverständnisses, die sie von der Seite auf
Adelaide und
ihn
warfen, mißfielen ihm.
"Sollte man mich
hintergehen?" dachte Hippolyt,
und es war das für ihn ein
schrecklicher, ein
verletzender
Gedanke, den er
trotzdem nicht
verscheuchen konnte. Um
vielleicht eine
Gewißheit zu
erlangen, blieb er bis zuletzt. Er hatte hundert
Sous
verloren und seine Börse gezogen, um
Adelaide zu
bezahlen.
Doch von
seinen peinigenden Gedanken überwältigt, legte er seine Börse
auf den Tisch. Als er aus
seinem Nachdenken wieder erwachte,
schämte er sich über sein Schweigen,
dachte aber nicht mehr
an seine Börse, sondern erhob sich,
antwortete auf eine
gleichgültige
Frage, die Frau von
Rouville an ihn
richtete, und trat
ihr näher, um beim
Sprechen ihre alten Züge
besser prüfen
zu
können. Von einer
peinigenden Ungewißheit ergriffen, entfernte er sich,
doch war er kaum
einige Stufen der
Treppe hinabgeeilt, als
er sich erinnerte, seine Börse auf dem Tisch
liegen gelassen
zu haben, und er
kehrte zurück. "Ich habe meine Börse
bei Ihnen vergessen," sagte er zu
Adelaide. --"Nein ..." anwortete
sie
errötend. "Ich glaubte sie hier zu
finden!" Er
zeigte
bei
diesen Worten auf den
Spieltisch, schämte sich aber im
Herzen des
jungen Mädchens und der Baronin, als er seine
Börse nicht erblickte, und sah die
beiden Frauen auf eine
so verlegene Weise an, daß diese lachten. Dann
erbleichte er
und sagte: "Ach, nein, ich habe mich getäuscht!... Ich habe
die Börse." Er empfahl sich und ging. In einem
Abteil
der Börse
befanden sich
dreihundert Franken in Gold und in
dem anderen
einige kleine Münzen. Der Diebstahl war so klar,
auf eine so kecke Weise geleugnet, daß
Hippolyt keinen Zweifel
über die Moralität
seiner Nachbarinnen mehr hegen
konnte. Er blieb
auf der
Treppe stehen, stieg mit Mühe hinab, seine Beine
zitterten, Schwindel ergriff ihn,
kalter Schweiß trat ihm auf die
Stirn, und er
fühlte sich
außerstande, zu gehen und die
heftige Aufregung zu
ertragen, die der
Zusammenbruch aller
seiner Hoffnungen
in ihm
hervorgerufen hatte. Er erinnerte sich jetzt einer Menge
von
Beobachtungen, die
anscheinend geringfügig waren, aber dennoch den
schrecklichen
Verdacht bestärkten, der ihn ergriffen hatte, und ihm die Augen
inbezug auf den Charakter und das Leben der
beiden Frauen
öffnete. Sie
hatten also
gewartet, bis das Bild beendet und
übergeben war, ehe sie ihm die Börse raubten!?... Der Diebstahl
erschien noch häßlicher, indem er sich als ein
berechneter herausstellte.
Der Maler erinnerte sich zu
seinem Kummer, daß
Adelaide schon
seit zwei oder drei Abenden mit
mädchenhafter Neugierde die
kunstreiche
Filetarbeit der
abgenutzten seidenen Börse
betrachtet habe;
allein wahrscheinlich nur,
um sich zu
überzeugen, wieviel Geld in dem
Beutel enthalten
sei. Die
anscheinend unschuldigen Scherze, die sie dabei
machte, bezweckten
wahrscheinlich nur, den
Augenblick zu
erspähen, wo die Summe groß
genug sein würde, um eines
Diebstahls wert zu sein.--"Der alte
Admiral hat
vielleicht seine guten
Gründe, Adelaide nicht zu
heiraten,
und die Baronin wird daher
versucht haben, mich...." Er
wollte
eine Vermutung
aussprechen, unterbrach sich aber und
vollendete seinen Gedanken
nicht, da
derselbe zudem durch eine ganz
richtige Betrachtung widerlegt
wurde. "Wenn die Baronin,"
dachte er nämlich, "mich mit ihrer
Tochter hätte
verheiraten wollen, so würde man mich nicht bestohlen
haben...." Um nicht ganz aus
seinen Illusionen gerissen zu
werden,
versuchte dann seine Liebe, die bereits so tief
eingewurzelt war,
in einem
Zufall irgend eine
Rechtfertigung zu
finden. "Meine Börse
kann auf die Erde
gefallen sein,"
dachte er, "sie kann
vielleicht auf
meinem Stuhle liegen geblieben sein. Ich habe sie
vielleicht in
meiner Zerstreuung in die
Tasche gestickt...." Und er
durchsuchte hastig alle seine Taschen, fand aber
nirgends die
verwünschte
Börse. Sein grausames
Gedächtnis bestätigte ihm nur die
betrübende Wahrheit.
Er sah
deutlich seine Börse auf dem
Tische liegen, zweifelte
nicht mehr an dem Diebstahl,
entschuldigte aber dennoch
Adelaide, indem
er
dachte, daß man
Unglückliche nicht zu schnell richten dürfe,
daß ohne Zweifel
irgend ein Geheimnis
dieser dem
Anschein nach
ehrlosen Handlung zugrunde liege. Es
wollte ihm nicht in den
Sinn, daß ein so edles und stolzes Antlitz Lüge sein
könne. Dennoch
erschien ihm jetzt die armselige Wohnung als
vollkommen
entblößt von der
Poesie der Liebe, die alles
verschönert; er
sah sie jetzt schmutzig,
verwohnt, und
betrachtete sie als die
Darstellung eines
Lebens ohne Adel, ohne edle
Handlungen, denn
unsere
Gefühle sind
gewissermaßen den
Dingen aufgeprägt, die uns umgeben. Am
folgenden
Morgen erhob er sich, ohne
geschlafen zu haben. Der
Schmerz
seines Herzens, diese schwere
moralische Krankheit, hatte
furchtbare Fortschritte
bei ihm gemacht. Ein
geträumtes Glück zu verlieren, einer
ganzen
Zukunft zu
entsagen, dies ist ein
Leiden, bitterer als jedes
andere, das durch den Untergang eines
genossenen Glücks veranlaßt wird,
wie
vollkommen dasselbe auch sein
mochte. Die
Gedanken, denen sich
dann plötzlich unser Geist
überläßt, gleichen einem Meer ohne Ufer,
in dem
unsere Liebe sich zwar einen
Augenblick schwimmend erhalten
kann, aber dennoch endlich
untergehen und ertrinken muß. Das ist
ein
schrecklicher Tod: sind nicht die Gefühle der
glänzendste Teil
unseres
Lebens? Aus
diesem teilweisen Tode
entspringen bei
gewissen zarten
oder starken
Konstitutionen die
großen Verheerungen, die durch die
Entzauberung
durch
getäuschte Hoffnungen und
Leidenschaften hervorgebracht werden. So ging es
Hippolyt. Am
frühen Morgen ging er aus und
wandelte in
dem
kühlen Schatten der Tuilerien, während er in seine
Gedanken
versank und alles in der Welt
vergaß. Ein
Zufall, der
gar
nichts Ungewöhnliches hatte, ließ ihn einen
seiner vertrautesten Freunde
treffen, der auf dem Kollegium und in der Malschule sein
Kamerad gewesen war, mit dem er
vertrauter gelebt hatte, als
man mit einem
Bruder zu leben
pflegt. "Was fehlt Dir?"
fragte Daniel Vallier, ein
junger Bildhauer, der
kürzlich den
ersten
Preis erlangt hatte und nächstens nach Italien
reisen sollte. "Ich
bin sehr
unglücklich ..."
antwortete Hippolyt ernst. "Nur eine
Herzensangelegenheit
kann Dich so sehr bekümmern, denn an Geld, Ruhm und
Ansehen fehlt es Dir nicht."
Allmählich entspann sich ein
vertrautes
Gespräch, und der Maler gestand seine Liebe. Als
Hippolyt von
der Rue de Surèsne und von einem
jungen Mädchen
erzählte,
das in einem vierten Stock
wohnte, da rief
Daniel mit
ungewöhnlicher Heiterkeit aus: "Halt! das ist das junge Mädchen, das
ich jeden
Morgen in der
Assomption sehe und dem ich
den Hof mache. Aber, mein
Lieber, die
kennen wir alle!
Ihre
Mutter ist eine Baronin! Glaubst Du denn an
Baroninnen,
die im vierten Stock
wohnen?... Brr!... Du bist ein guter
Junge, der noch im
goldenen Zeitalter lebt!... Wir sehen die
>>>
Übersicht |
1 |
2 |
3 |
4 |
5 |
6 |
7 |
8 |
9 |
10 |
11 |
12 |
13 |
14 |
15 |
16 |
17 |
18
nach oben